Hamburg. Fraktionsvorsitzende fordert Null-Euro-Ticket, gerechtere Aufteilung von Geflüchteten und sagt, warum sie nicht an Wagenknecht glaubt.
Als Cansu Özdemir (35) aus dem Fahrstuhl kommt, hat sie zunächst eine Frage. Wie lange denn ungefähr das Interview dauern werde, will die Fraktionsvorsitzende der Linken wissen. Ihr einjähriger Sohn sei gerade in der Kita-Eingewöhnung, da müsse man gut organisiert sein, sagt sie. Das Gespräch über Kitas, Noten, Sozialpolitik und Sahra Wagenknecht wird am Ende eine gute Stunde dauern – und danach ist wieder der Sohnemann die Hauptperson.
Kitas und Sozialpolitik in Hamburg: Linken-Politikerin Cansu Özdemir wird deutlich
Hamburger Abendblatt: Frau Özdemir, vor einer Woche haben wir AfD-Chef Dirk Nockemann gefragt, ob er Angst habe, sich abends am Hauptbahnhof aufzuhalten. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Cansu Özdemir: Ich bin früher abends oft über den Steindamm gelaufen, da ist es ja ziemlich voll. Deswegen fühle ich mich auch sicher dort. Ich kann es aber auch nachvollziehen, wenn Menschen sich rund um den Bahnhof unsicher fühlen und wenn sie Angst haben, mit ihren Kindern am Drob Inn vorbeizulaufen. Ich finde es wichtig, diese Ängste ernst zu nehmen.
AfD und CDU versuchen seit Wochen, auf die Karte Innere Sicherheit zu setzen. Hat Hamburg ein Sicherheitsproblem?
Nein. Natürlich gibt es dunkle Ecken, wo auch ich mich unsicher fühle, aber so, wie die CDU und die AfD es im Sommer aufgebauscht haben, finde ich es falsch.
Statt mehr Polizeipräsenz fordern Sie mehr Sozialarbeiter, mehr Konsumräume und sogenannte „Clean-WG’s“ für die Nacht. Nur wohin damit?
Das ist die spannende Frage. Niemand möchte eine solche Einrichtung bei sich im Stadtteil haben, weil es auch Probleme mit sich bringt, und das verschweigt ja auch niemand. Aber die Räume sollten natürlich sehr zentral gelegen sein, weil sich viele drogenabhängige Menschen zentral bewegen und diese Anlaufstelle natürlich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar sein muss. Wir brauchen mehrere Anlaufpunkte, damit nicht so viele Menschen auf einem Fleck stehen und es auch nicht mehr so bedrohlich wirkt. Die Clean-WG ist zum Beispiel ein Vorschlag, wo Menschen wenigstens unterkommen können. Dann würden sie auch nicht auf der Straße schlafen und dieses bedrohliche Szenario überhaupt entstehen lassen.
Beim Hauptbahnhof geht es immer um Sozial- und um Sicherheitspolitik. Sozialbehörde oder Innenbehörde: Wer macht aus Ihrer Sicht aktuell den besseren Job?
Fangen wir mit der Sozialbehörde an: Im Vergleich zu Melanie Leonhard hat Frau Schlotzhauer leider ein ganz anderes Standing. Ich war zehn Jahre lang sozialpolitische Sprecherin, und obwohl Frau Leonhard und ich politische Differenzen hatten, fand ich sie immer sehr viel präsenter, was dieses Thema angeht. Frau Schlotzhauer ist, finde ich, viel zu still in dieser Debatte. Sie überlässt diese Problematik komplett der Sicherheitspolitik und damit dem Innensenator. Ich finde es sehr kritisch, dass die Sozialsenatorin in dieser ganzen Debatte einfach nur schweigt.
Bei den Bezirkswahlen haben Sie auf den Slogan „Ein gutes Leben für alle“ gesetzt. Ist das in Hamburg derzeit überhaupt möglich?
Es ist möglich, aber es erfordert sehr große Anstrengungen. Die Corona-Pandemie und die Inflation haben die Armut stark steigen lassen. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Jeder fünfte Mensch in Hamburg lebt in Armut oder ist an der Grenze zur Armut. Bei den Jugendlichen ist es sogar jeder Vierte.
Das sind erschreckende Zahlen …
Ja, und die Statistik zeigt auch: Gerade Familien mit drei oder mehr Kindern haben es momentan sehr schwer. Die Wohnungssituation, also der Mangel an bezahlbaren Wohnungen und die für viele Mieter bedrohlichen, oft drastischen Mietsteigerungen, sind dabei das eine. Aber das andere ist die Beteiligung der Menschen – zum Beispiel am kulturellen und sozialen Leben in den Stadtteilen. Wir haben die Situation, dass Eltern zu ihren Kindern sagen müssen: Wir können jetzt nicht ins Schwimmbad gehen, weil wir uns das diesen Monat nicht leisten können. Viel zu viele Kinder und Jugendliche sind von sozialer und kultureller Teilhabe einfach ausgeschlossen. Deshalb haben wir auch eine Kinder- und Jugendkarte vorgeschlagen: Damit hätten alle unter 18 Jahren die Möglichkeit, kostenlos in staatliche Theater und Museen oder ins Schwimmbad zu gehen oder einem Sportverein beizutreten.
Gute Idee, die aber viel Geld kosten dürfte …
Das würde 125 Millionen Euro pro Jahr kosten. Bei aktuell zwei Milliarden Euro mehr Steuermehreinnahmen kann sich Hamburg das leisten – das ist erst mal eine Frage der Prioritäten. Das Geld ist da – auch für andere Vorschläge der LINKEN.
Zum Beispiel?
Wir fordern, dass Leistungsempfänger und Wohngeldempfänger den HVV zum Nulltarif nutzen können.
Null-Euro-Ticket klingt charmanter als 49-Euro-Ticket. Aber die gleiche Frage wie eben: Wer soll das alles bezahlen – und vor allem, was würde das kosten?
Es ist eine Investition, die sich wirklich lohnt. Wenn wir die Entscheidung treffen, dass eine schlecht geplante U5 16,5 Milliarden Euro kosten darf, dann braucht man sich an anderer Stelle auch nicht so lange Gedanken darüber zu machen, ob man wirklich allen Menschen in unserer Stadt die Teilhabe ermöglichen möchte. Dieses gute Leben für alle ist möglich!
Das sind alles tolle Ideen, genauso wie Ihr Vorhaben, acht Stunden Kita-Grundbetreuung für alle kostenlos anzubieten. Aber noch ein drittes Mal direkt gefragt: Wo soll das Geld dafür herkommen?
Na ja, da geht’s um die Prioritäten. Für bestimmte Projekte ist es oft plötzlich doch möglich, Geld vom Bund oder aus Schattenhaushalten zu bekommen. Wo kommen denn die 16,5 Milliarden Euro für die U5 her? Das sind ja auch Steuergelder – und die Menschen haben kaum die Möglichkeit, sich an diesen Entscheidungen zu beteiligen. Und wenn Rot-Grün lieber ohne Not Milliarden in die Schuldenrückzahlung steckt, statt in unsere Stadt zu investieren, dann ist das halt ebenfalls falsch. Eine Investition in unsere Kinder ist eine Investition in die Zukunft Hamburgs. Ein kostenloses Frühstück in den Kitas und in den Schulen wäre zum Beispiel auch schon einmal ein Anfang.
CDU-Fraktionschef Dennis Thering hat zehn Stunden kostenlose Kitabetreuung gefordert, Sie acht. Könnte es also auf eine Koalition mit der CDU hinauslaufen?
(lacht) Nein, natürlich nicht. Ich habe mich ehrlich gesagt auch sehr über die CDU gewundert, weil unsere Forderung wirklich nicht neu ist, die CDU aber immer dagegen war. Das ist ja jetzt eine Maximalforderung, die Herr Thering da aufgestellt hat, und es geht offensichtlich darum, sich für die Bürgerschaftswahl aufzustellen und als Bürgermeisterkandidat bekannt zu machen.
Heißt aber: acht Stunden für jeden? Es gibt ja auch Menschen, die finanziell gar nicht darauf angewiesen wären. Die haben dann einfach Glück?
Im ersten Schritt acht Stunden kostenlos für alle Kinder, die Förder- und Unterstützungsbedarf haben. Bei mir in der Schule im Osdorfer Born gab es diese Situation, dass Kinder aus Familien, die sich halt die Klassenreisen nicht leisten konnten, nach vorne zum Lehrerpult gehen und sich einen Schein abholen mussten. Das war eine sehr traumatische Erfahrung, die mich auch jahrelang noch verfolgt hat.
Bleiben wir einmal bei den Kindern und werfen einen Blick aufs Bildungssystem: Ihre Parteikollegin Janine Wissler hat nun auf Bundesebene gefordert, die Noten und Hausaufgaben abzuschaffen. Tragen Sie diesen Vorschlag mit?
Ja (grinst). Während meiner eigenen Schulzeit habe ich Noten schon als etwas Beängstigendes wahrgenommen und ich nehme es bei Kindern in meinem Umfeld immer noch so wahr. Es ist natürlich ein enormer Druck und gerade bei der Ganztagsbetreuung haben die Kinder gar nichts mehr vom Tag, wenn sie um 16 Uhr nach Hause kommen und dann noch Hausaufgaben machen müssen. Sie haben ja kaum noch Zeit für soziale Aktivitäten oder Zeit mit der Familie.
Haben Sie keine Angst, dass die Schule dadurch vielleicht zu einer Art realitätsfernem Raum werden könnte, wenn es gar keine Bewertungen mehr gibt?
Nein. Wir haben so tolle Lehrkräfte an den Schulen. Ich glaube, das Problem werden nicht die Noten sein. Wie entsteht denn eine Note? Werden wirklich alle Kinder fair benotet? Es gibt ja noch andere Möglichkeiten, um die schulische Leistung der Kinder zu bewerten, wie etwa schriftliche Bewertungen. Die finde ich zum Beispiel viel aussagekräftiger als eine Note.
Wir haben schon über die überraschenden Schnittmengen in Sachen Kitas mit der CDU unter Dennis Thering gesprochen. Weniger Schnittmengen dürften Sie und die CDU in Sachen Flüchtlingspolitik haben. Die Sozialbehörde hat gerade erst Alarm geschlagen, dass nahezu alle Unterkünfte voll seien. Was tun?
Das ist eine gute Frage, die der Senat aber schon vor zehn Jahren hätte beantworten müssen …
Na ja, fairerweise muss man sagen, dass es damals noch keinen Ukraine-Krieg und keine Syrien-Flüchtlinge gab.
Das stimmt. Aber wir reden in der Bürgerschaft schon seit 2011 darüber, wie man Platz für mehr Geflüchtete schafft. Im Zuge der EU-Freizügigkeit hatten wir auch schon damals viele Menschen aus Süd- und Osteuropa, die nach Hamburg kamen. Und schon damals haben wir eine Dezentralisierung von Flüchtlingsunterkünften gefordert.
Sie meinen, dass die vielen Geflüchteten besser in Hamburg aufgeteilt werden müssen?
Genau. Wir müssen auch Wahrheiten aussprechen, die keiner hören will. Wir werden noch viel mehr Geflüchtete unterbringen müssen, zum Beispiel Menschen, die vor Klimakatastrophen flüchten. Es wird ja eher mehr als weniger Katastrophen in Zukunft geben.
Dezentralisierung ist ein schönes, theoretisches Wort, das in der Praxis aber kaum funktioniert. Zum Beispiel im reichen Alstertal, wo bislang noch kaum Unterkünfte stehen, wehren sich aktuell viele Duvenstedter dagegen, dass bei Ihnen eine neue Unterkunft für 320 Personen geplant ist. Ist Hamburgs Welcome-Refugees-Kultur endgültig am Ende?
Die Situation ist nicht gut – und sie wird auch nicht besser. Ein Blick auf den Geflüchtetenatlas, der im Abendblatt veröffentlicht wurde, zeigt doch, dass sich die meisten Unterkünfte eher auf die zentralen Stadtteile verteilen. In eher reicheren Stadtteilen gibt es dagegen weniger Unterkünfte, dafür aber mehr Protest, wenn dann doch mal eine Unterkunft geplant wird. Gleichzeitig muss allerdings auch die Sozialbehörde den Beteiligungsprozess in den Stadtteilen stärken.
Wer hat am Beispiel Duvenstedt also den schwarzen Peter? Die Sozialbehörde oder die Anwohner?
Beide. Natürlich muss man die Menschen mit einbinden. Aber die Menschen müssen sich auch einbinden lassen. Als in meinem Stadtteil Osdorf, einem sehr armen Stadtteil, die ersten Geflüchteten untergebracht wurden, ging eine Welle der Solidarität durch den Stadtteil. Rentnerinnen und Rentner packten tatkräftig mit an. Mich hat das stolz gemacht. Ein bisschen mehr Solidarität schadet nicht.
Ihre Noch-Parteikollegin Sahra Wagenknecht ist der Auffassung, dass Deutschland keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen kann.
Wenn Menschen in Not sind, dann kann man keine Obergrenzen einführen. Die Menschen werden kommen – egal ob man sich eine Obergrenze überlegt oder nicht. Und wenn man sieht, wie viele Menschen gerade wieder im Mittelmeer ertrinken, dann kann man doch nicht einfach weggucken. Deswegen fand ich es auch richtig, dass die Bundespartei deutlich gesagt hat, dass die Zukunft der Partei ohne Sahra Wagenknecht sein wird.
Hat denn die Linke überhaupt eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht?
Die Situation ist schwierig, aber wir kämpfen für unsere Inhalte. Sahra Wagenknecht ist prominent und auch populär. Deswegen wäre es schön gewesen, wenn sie gemeinsam mit uns für Linke-Inhalte gekämpft hätte und nicht im Alleingang dagegen.
Machen Sie sich um die Zukunft der Linken ohne Sahra Wagenknecht Sorgen?
Natürlich mache ich mir um die Zukunft der Linken Sorgen. Wer hält denn in AfD-Zeiten noch die antifaschistische Fahne hoch? Das sind doch wir Linken. Es darf keine Normalisierung der AfD geben. Und mir als Linke tut es besonders weh, wenn ich höre, dass eine Linke wie Sahra Wagenknecht eine Obergrenze für Flüchtlinge fordert. Das hilft der Linken in einer Zeit, in der die Umfragewerte der AfD nach oben schießen, nicht weiter.
Wirklich nicht? Könnte es nicht ausgerechnet Wagenknecht schaffen, der AfD entscheidende Stimmen zu klauen?
Am Ende wählen die Menschen oft lieber das Original als eine neu gegründete Partei als Kopie. Sahra Wagenknecht war ja auch als Bundestagskandidatin in Nordrhein-Westfalen nicht sonderlich erfolgreich, deswegen sehe ich sie nicht als Bollwerk gegen die AfD.
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Viel mehr habe ich großen Respekt vor Parteikolleginnen und Kollegen im Osten, die zu ihren Überzeugungen stehen und diese auch in Gegenden vertreten, wo Nazis keine Seltenheit sind. In Hamburg ist es einfach, sich für Geflüchtete einzusetzen. In manchen Gegenden im Osten ist das gar nicht so einfach.
Auch in Hamburg ist der Streit rund um Wagenknecht nicht spurlos vorbeigegangen. Die Wagenknecht-Getreue Zaklin Nastic hat sogar behauptet, dass die Links-Partei zu einer Sekte verkommen sei.
(lacht) Wir sind keine Sekte – und wir haben auch einen sehr harmonischen Landesverband. Dass es mit Frau Nastic große Konflikte gegeben hat und gibt, ist aber natürlich auch kein Geheimnis.
Wann haben Sie das letzte Mal mit Zaklin Nastic gesprochen?
Das ist lange her. Kurz vor den Bundestagswahlen.
Wieso können die Linken derartige Streitereien nicht friedlich regeln?
Vom Landesvorstand gab es immer wieder Gesprächsangebote, die nicht angenommen wurden. Manchmal gibt es Konflikte, für die man eine Lösung finden muss. Manchmal gibt es aber auch Konflikte, für die es einfach keine Lösung gibt. Da muss man dann einen Umgang mit finden.
Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Linken in Hamburg bei den nächsten Wahlen unter die Räder kommen?
Natürlich mache ich mir Sorgen. Aber die Wahl in Bremen hat doch auch gezeigt, dass man mit guter Arbeit und dem Thema soziale Gerechtigkeit trotz der Querelen auf Bundesebene ein gutes Ergebnis erzielen kann.
Was halten Sie in Hamburg für ein realistisches Ergebnis?
Die aktuellen Umfragewerte von knapp sieben Prozent sind nicht gut, aber wir haben noch Zeit. Ich bin zuversichtlich, dass wir es erneut schaffen können, über neun Prozent zu kommen. Die Linken sind eine wichtige Stimme für die soziale Gerechtigkeit in Hamburg – und das soll auch so bleiben.