„Das Geräusch meiner Kindheit war das Rattern der Züge“: Professor Rainer Nicolaysen erinnert sich an seine Jugend zwischen Bahndamm und Schulterblatt, wo man noch lose Butter aus Bottichen und in der Flora 1000 Töpfe kaufen konnte.
An der Ecke Moorweidenstraße/Schlüterstraße, wenige Schritte von meinem Büro im Hauptgebäude der Universität entfernt, sprachen mich am späten Nachmittag drei auffallend gut gekleidete Frauen mittleren Alters an und fragten sehr freundlich, wie weit es zum Schanzenviertel sei, ob man es zu Fuß erreichen könne oder besser öffentliche Verkehrsmittel oder ein Taxi nehme. Sie seien gerade in Hamburg angekommen, auf Kurzurlaub, das Schulterblatt sei ihr erstes Ziel in der Stadt.
Nicht an Elbe oder Alster zog es sie also zuerst, sondern in „die Schanze“, inzwischen in wohl jedem Hamburg-Reiseführer als buntes Szeneviertel beschrieben, angereichert mit Fotos von der „Piazza“, mit in der Sonne sitzenden, Galão trinkenden, meist jüngeren Menschen in vermeintlich mediterranem Ambiente – eine Anmutung, die inzwischen auch als Ansichtskarte existiert. Als ich sie vor einigen Jahren das erste Mal sah, kaufte ich spontan einen kleinen Stapel, erstaunt darüber, dass „mein Schulterblatt“ es zur Sehenswürdigkeit gebracht hatte.
Den drei Touristinnen wollte ich vorschlagen, den Weg zu Fuß zurückzulegen, bis mein Blick auf ihr nicht eben praktisches Schuhwerk fiel. Also riet ich ihnen, vom Dammtor-Bahnhof aus mit der S-Bahn eine Station bis Sternschanze zu fahren: Dann seien sie schon fast mittendrin. Dort, vor dem S-Bahnhof, übrigens, ich sah es erst neulich, steht für Ortsunkundige ein offizieller Wegweiser der Stadt Hamburg mit der Aufschrift „Schanzenviertel 400 Meter“. Fast schien es, als führten plötzlich alle Wege zum Schulterblatt.
Mir fiel ein, dass ich während meiner letzten Gastprofessur in Vermont im Nordosten der USA von einer amerikanischen Studentin gleich am ersten Tag gefragt worden war, wie es denn um die besetzte Rote Flora stehe: Wir sitzen auf der Mensaterrasse des für mich wundervollen, für Studierende allerdings auch sündhaft teuren Middlebury Colleges auf der anderen Seite des Atlantiks, weitab von allem, inmitten der grünen Berge – und ich werde nach dem Schulterblatt gefragt! Weder die drei Touristinnen noch die amerikanische Studentin ahnten, welchen inneren Film sie mit ihren Fragen bei mir zum Laufen brachten. Ich bin am Schulterblatt aufgewachsen, von meinem dritten bis zum 14. Lebensjahr, von 1963 bis 1974, habe ich dort gelebt. Das Schanzenviertel ist meine Kindheit.
Ich mochte das Schanzenviertel nicht.
Als Kind empfand ich meinen Stadtteil als heruntergekommen, in manchen Straßenzügen als geradezu bedrückend: unverputzte Häuser, steile Stiegen, die in enge, düstere Treppenhäuser führten, unwirtliche Hinterhöfe, deutsche Eckkneipen mit nikotindurchtränkten Stores vor den Fenstern. Schon tagsüber hallte das Grölen streitender Betrunkener durch die Straßen. Hier im Quartier wohnten keine Studenten, hier gab es keine „Szene“ und keine ausländischen Restaurants, kein Kulturzentrum und keine Straßencafés.
Es war einfach ein Hamburger Arbeiterviertel, geprägt von rauen, abgearbeiteten Gesichtern, mitunter ruppigen Gesten und bescheidenen Wohnverhältnissen. Viele Wohnungen hatten kein Bad, kein fließendes Warmwasser und keine Zentralheizung, stattdessen rußige Kohleöfen, häufig auch Elektroleitungen, die abenteuerlicherweise noch nicht „unter Putz“ gelegt worden waren, undichte Fenster, die sich winters wegen Vereisung nicht mehr öffnen ließen, und Balkone, deren Betreten wegen Absturzgefahr verboten war.
All das traf auch auf unsere Wohnung an der Rosenhofstraße zu. Aber als wir im Herbst 1963 dort einzogen, ich war noch keine drei Jahre alt, bedeutete dies für meine Familie eine entscheidende Verbesserung der Wohnsituation. Zuvor hatten wir zu viert, meine Eltern, meine vier Jahre ältere Schwester Christine und ich am Valentinskamp noch nachkriegstypisch, „auf Zimmer“ gewohnt, vier Personen auf 14 Quadratmetern.
Der Umzug in eine Dreizimmerwohnung war unter diesen Umständen nichts anderes als eine Befreiung – da spielte es keine Rolle, dass alle Errungenschaften modernen Wohnkomforts an dieser Wohnung, diesem Haus, diesem Viertel spurlos vorübergezogen waren. In der Küche stand in den ersten Jahren noch ein monströser Herd, der mit Kohlen befeuert werden musste. Auf ihm kochte meine Mutter nicht nur die Mahlzeiten, sondern auch, in einem schweren Topf, die Kochwäsche. Jeden Sonntagabend, wenn wir Kinder im Bett waren, verwandelte sich die Küche in eine brodelnde und dampfende Waschküche. Eine Waschmaschine hielt erst Ende der 60er-Jahre erlösenden Einzug.
Alle Zimmer der Wohnung gingen nach hinten hinaus, nicht zur Straße, sondern zu den S-Bahn- und Fernbahngleisen. Eigentlich also bin ich zwischen den S-Bahn-Stationen Sternschanze und Holstenstraße aufgewachsen, denn der Blick auf diese Bahnlinie bot sich von allen Fenstern der Wohnung aus. Mein dominierendes Kindheitsgeräusch stammte von den fahrenden Zügen, die, jedenfalls in meiner Erinnerung, wesentlich mehr Töne von sich gaben als heute, ein einziges Klappern, Quietschen, Klirren, Rattern.
Alle meine Musikkassetten, die ich dann als Jugendlicher Anfang der 70er-Jahre bespielt habe, indem ich, wie damals üblich, das Mikrofon des Rekorders an den Radiolautsprecher hielt, haben Bahngeräusche im Hintergrund. Kein Song der „Internationalen Hitparade“ war kurz genug, um nicht vom Dröhnen einer S-Bahn oder dem Scheppern eines Fernzugs beeinträchtigt zu werden. Unermüdlich schienen die Bahnen am rückwärtigen Teil unseres Wohnhauses, an unserem Kinderzimmerfenster, vorbeizufahren und dabei kräftig Laut zu geben. Das ist mein Schanzenviertel-Geräusch. Eine der Kassetten übrigens habe ich durch alle Zeiten hindurch aufbewahrt, ein Relikt in der Schublade, das Abspielgerät dazu schon lange abgeschafft.
Auf unserer Etage, der zweiten, wohnten wir in der Mitte, links und rechts von uns lebten ältere Witwen: die eine klein und zierlich, aber mir als Kind immer etwas unheimlich, wenn sie mich in ihre höhlenartig verdunkelte Wohnung zog; die andere nett, aber nicht selten schon tagsüber alkoholisiert; uns Geschwistern schenkte sie mitunter Bitterschokolade, die jedoch unangerührt blieb. Welches Kind mag schon Bitterschokolade? Beide Nachbarinnen sind, wie ich jetzt sehe, bereits im Adressbuch des Jahres 1935 verzeichnet, schon damals in denselben Wohnungen lebend, schon damals Witwen.
Ansonsten wohnten in dem Haus jahrzehntelang Arbeiter, zum Teil Facharbeiter und Bahnbedienstete. Eine größere Fluktuation unter den Mietern begann erst spät, Ende der 60er-Jahre. Wer es sich leisten konnte, zog jetzt weg aus dem Schanzenviertel, möglichst in eine der heiß begehrten Neubauwohnungen, vielleicht nach Horn, wie die Familie meiner engsten Schulfreundin. Das wurde als Aufstieg verstanden: vom Hinterhof am Schulterblatt in eine Neubausiedlung in Horn – ein Stadtteil, der mir als Neunjähriger freilich ebenso fern schien wie Tauberbischofsheim, unerreichbar, eben weg. Die Kinderfreundschaft hatte ob dieser Distanz keine Chance; erst Jahrzehnte später sahen wir uns wieder. Heute lebt Christina wieder im Schanzenviertel.
Dessen Zentrum war und ist der Schulterblatt – „das“ Schulterblatt sagte in meiner Kindheit niemand. Diese Hauptader durchs Viertel war auch vier Jahre lang mein Schulweg in die Volksschule Ludwigstraße, die 1906 auf dem ehemaligen Gelände von Hagenbeck’s Thierpark erbaut worden war; ein steinerner Löwen-Brunnen auf dem Schulhof erinnerte uns Schüler an die Vorgeschichte des Terrains. Dass es dort auch „Völkerschauen“ gegeben hatte, erzählte uns allerdings niemand.
Mein Schulweg führte von der Ecke Rosenhofstraße immer geradeaus den Schulterblatt entlang, dann oben, fast am Neuen Pferdemarkt, ging es links in die Schanzenstraße und von dort bald rechts in die Ludwigstraße. Nur dies war der erlaubte Weg. Die verbotene Variante führte „hintenrum“ über die Susannen-, Bartels- und Schanzenstraße, verboten, weil es bei der Straßenüberquerung keine Ampel gab. Meine Schwester hatte dort als Kind einen Unfall und lag wochenlang im Krankenhaus. Das schien mir schon wegen der damals rigiden Besuchszeiten die Einsamkeitshölle auf Erden. Ich mied den belasteten Weg.
Das Schulgebäude an der Ludwigstraße 7/9 hatte zwei Eingänge; über dem einen war „Mädchen“ zu lesen, über dem anderen „Knaben“. Aber diese Trennung galt nicht mehr – glücklicherweise, wie ich, so zumindest meine Erinnerung, schon als Kind mit Bestimmtheit dachte. Die Klassen im dreizügigen Jahrgang waren bei meiner Einschulung 1967 rappelvoll. Alle Schülerinnen und Schüler kamen aus dem Schanzenviertel. Schon das Karolinenviertel auf der anderen Seite der U-Bahn-Trasse galt als auswärtiges Gebiet und, um ehrlich zu sein, als noch schäbiger als unseres. Meine „Klassenkameraden“ kamen wie ich selbst aus „kleinen Verhältnissen“, heute würde man wohl sagen: aus „bildungsfernen Schichten“, aber das stimmte gar nicht unbedingt, für meine Familie jedenfalls nicht. Bildung war vielmehr ein hohes Gut, es gab gar nichts Wichtigeres, Bildung versprach ein besseres Leben.
Die Einschulung konnte ich kaum erwarten, und Schule blieb positiv besetzt, auch wenn ich vermutlich nie wieder eine solche Verlorenheit gespürt habe wie damals als Kind, an jenen Schultagen im Winter, an denen es draußen gar nicht hell zu werden schien und das Neonlicht im eng besetzten Klassenzimmer ein Gefühl größter Kälte und Künstlichkeit schuf, das nachgerade in meinen Körper kroch. Hinzu kamen der uns in der Schule regelmäßig begleitende Gestank vom nahen Schlachthof oder die unheimlichen Sirenen, die nicht selten vormittags heulten, ohrenbetäubend, wieder und wieder, „Probealarm“ hieß das noch Ende der 60er-Jahre. Die Nachkriegszeit war wohl doch noch nicht ganz vorbei.
Nach der vierten Klasse Volksschule wechselten außer mir nur zwei Schülerinnen meiner Jahrgangsstufe auf das Gymnasium: Vom Schanzenviertel auf die höhere Schule – das war 1971 noch ein ungewöhnlicher Schritt, ein Wagnis, wenige Jahre zuvor wäre er wohl gar nicht in Betracht gekommen. Am „Kaifu“, dem Gymnasium am Kaiser-Friedrich-Ufer, waren wir gegenüber den Eimsbüttelern eine kleine Minderheit. Es dauerte, bis das Fremdheitsgefühl wich. Mein über einige Zeit bester Schulfreund auf dem Gymnasium wohnte mit seiner Familie in einer luxuriösen Altbauwohnung an der Osterstraße; das Schanzenviertel fand er exotisch: erstaunlich, dass man dort wohnen könne.
Neben dem Café Stenzel stand bei Wind und Wetter eine Blumenverkäuferin
Meistens holte ich ihn morgens vor der Schule von zu Hause ab, während er umgekehrt nur höchst selten zu mir in die Rosenhofstraße kam. Stattdessen nutzten wir zeitweise exzessiv das in meiner Familie noch recht neue Telefon. Obwohl wir uns gerade in der Schule gesehen hatten, telefonierten wir am Nachmittag manchmal drei, vier Stunden lang am Stück miteinander. Ich habe keine Ahnung mehr, was wir uns so pausenlos zu erzählen hatten. Im Hintergrund hörte Jens wohl die ratternden Züge; es war mein Geräusch, für ihn eines aus einer anderen Welt.
Ich mochte das Schanzenviertel.
Die Straßen in meinem Stadtteil kannte ich gut, auch jeden Laden und manche Besonderheit. Vor der Einschulung war ich oft mit meiner Mutter einkaufen gegangen. Als Volksschüler, mit acht, neun Jahren, trug ich dann – wie meine Schwester – Wäsche aus, um erstes eigenes Geld zu verdienen. Frau Warmbiers Wäscherei mit Heißmangel befand sich unten bei uns im Haus. Die Laufwege mit den Wäschepaketen führten zur Augustenpassage, zum Kleinen Schäferkamp oder zur Vereinsstraße. Ich betrat viele Treppenhäuser und sah in etliche Wohnungen; ich lernte Bewohner des Viertels kennen und wusste über alle Einzelhandelsgeschäfte Bescheid, die viele Straßen der Gegend, vor allem aber den Schulterblatt säumten. Eine besondere Attraktion war dort das Fischgeschäft, das von zwei korpulenten älteren Schwestern betrieben wurde. Nicht ein einziger Hering oder eine einzelne Schillerlocke ging ohne plattdeutsch-schlagfertigen Kommentar über die Ladentheke. Das Ohnsorg-Theater war beschaulich dagegen.
Unvergessen ist auch der Milchladen an der Susannenstraße. Eine Plastikkanne mit Henkel brachte ich dorthin mit, um lose Milch einzukaufen. Herr Lafrenz, der Milchmann, maß dann mit genau zwei durchgezogenen Hebelbewegungen und einem unvergleichlich satten Einfüllgeräusch einen Liter Vollmilch oder Buttermilch ab. Im selben Geschäft gab es auch losen Schnopkram zu einem Pfennig das Stück. Mit einem Groschen ließ sich also schon richtig einkaufen. Mindestens ebenso präsent wie die von mir favorisierten Brausebonbons sind in meiner Erinnerung die Dreieckstüten mit den blauen Sternchen, in die die ganzen Köstlichkeiten geschüttet wurden. Schönere Verpackungen wird es niemals geben.
Ebenso eindrucksvoll wie der Milchladen war am Schulterblatt das Geschäft Hammonia, in dem lose Butter aus großen Bottichen verkauft wurde. Verkäuferinnen in weißen Kitteln klatschten mit Holzschabern die Butter auf das gewachste Papier, um sie dann nach den Wünschen der Kunden auszuwiegen und mit einigen gekonnten Schlägen in Form zu bringen. Einen Platz in meiner Kindheitserinnerung haben auch der Bäcker an der Schanzenstraße, der uns Schülern manchmal Kuchenabfälle, die Ränder von Blechkuchen, schenkte, und das Fotogeschäft Ecke Rosenhofstraße/Susannenstraße, das stets abgedunkelt war und dessen Fachpersonal auch meine Kindersorgen mit einem Billigstapparat ernst nahm.
An der Susannenstraße, direkt neben dem Grünhöker, gab es einen Plattenladen, in dem ich meine erste Single kaufte, und schräg gegenüber den Tabakladen, der mich mit leeren Zigarrenkästen versorgte. In ihnen ließen sich allerlei Schätze sammeln und ordnen, am besten aber fand ich den güldenen Verschluss der Holzkisten, der sich so elegant herunterklappen ließ. Ein paar Häuser weiter schaute ich gern in den Radio- und Fernsehladen, dessen Besitzerin mich mit ihrer extravaganten Schminke und einer rekordverdächtigen Hochfrisur immer wieder in Staunen versetzte. Auch Glamour also gab es damals schon im Viertel.
Und natürlich darf ich die Blumenverkäuferin ohne Laden nicht vergessen. Eine ganze Epoche lang stand sie links neben dem heutigen Café Stenzel am Torweg, nur mit einigen Eimern voller Blumen, meist in Kittel und Gummistiefeln, halb draußen auch bei Wind und Wetter. Mitte der 60er-Jahre habe ich sie mit den Augen des Kleinkindes gesehen und als Erwachsener noch Jahrzehnte später – und zunehmend fragte ich mich, wie der Schulterblatt, unser Viertel, das Leben überhaupt von diesem immer gleichen Standort aus wohl wahrgenommen werde, jahrzehntelang den immer gleichen Ausschnitt des Treibens im Blick, zugleich eine ganze Welt.
Als ich von 1998 bis 2001 in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte arbeitete, die damals zwei Etagen im Montblanc-Kontorhaus angemietet hatte, schräg gegenüber dem Torweg mit der inzwischen in die Jahre gekommenen Blumenverkäuferin, plante ich mehrmals, die fremde, als Bild meiner Kindheit aber vertraute Frau anzusprechen, vielleicht ein Interview mit ihr zu führen, über ihr Leben am Schulterblatt, wenn sie denn Lust dazu hätte. Ich weiß nicht, was mich zurückhielt. Eines Tages war sie für immer verschwunden.
Faszinierend für mich schon als Kind war die Zuordnung des Schulterblatts zu vier verschiedenen Stadtteilen, die vor nicht allzu langer Zeit noch zwei verschiedenen Städten angehört hatten, eben dass man von einer Straßenseite zur anderen zwischen St. Pauli und Altona-Altstadt bzw. nördlich vom Bahndamm zwischen Eimsbüttel und Altona-Nord hin- und herwechseln und die frühere Stadtgrenze Hamburg/Altona fantasieren konnte. Die Rosenhofstraße gehörte zum Stadtteil St. Pauli, aber wenn ich die wenigen Schritte von der Nummer 26 zur Ecke Schulterblatt hochging, konnte ich dort auf der gegenüber liegenden Straßenseite, kurz vor der Bahnbrücke, den Blumenladen sehen, dessen Gebäude mit dem Schriftzug „Das kleinste Haus in Altona“ gekennzeichnet war. Ob damals schon die heute auf der „Piazza“ sichtbaren Grenzsteine mit dem „H/A“ im Straßenpflaster verlegt waren, weiß ich nicht. Aufklärung über die frühere Grenze zwischen Hamburg und Altona hatte mir ohnehin schon mein Vater gegeben, der an Geschichte und Geografie besonders interessiert war. Als Fußbodenleger arbeitete er auf dem Bau und auf Schiffen; den Hamburger Hafen, aber auch die ganze Stadt kannte er wie seine Westentasche.
Die Frage der Grenzziehung zwischen den Städten Hamburg und Altona berührte mich als Kind auch deshalb, weil ich im Personalausweis meines 1927 geborenen Vaters als Geburtsort „Altona an der Elbe“ verzeichnet fand. Die Hinzufügung des Flussnamens beeindruckte mich, obwohl der Wohlklang dieser Wendung mit meiner Wahrnehmung des angrenzenden Stadtteils so gar nicht zusammenzupassen schien. Richtig ärgern ließ sich mein Vater übrigens durch die Bemerkung, er sei doch laut Pass gar kein richtiger Hamburger, sondern eben Altonaer. Dabei wusste ich genau: Mehr Hamburger als er konnte man nicht sein. Nach der Familienerzählung hat er meiner Mutter, als er sie in Bayreuth kennenlernte, so sehr von Hamburg vorgeschwärmt und ihr die einzelnen Viertel so genau geschildert, dass ihr die Straßen der unbekannten Großstadt bei ihrer Ankunft im „neuen Leben“ auf Anhieb vertraut gewesen seien.
Das imposanteste Gebäude am Schulterblatt war auf dessen Altonaer Seite die Flora. Mein Vater berichtete mir, lange Zeit sei dies ein Konzert- und Theaterhaus gewesen, der Mittelpunkt des traditionellen Ausgehviertels Schulterblatt; neben vielen anderen Stars sei Hans Albers hier aufgetreten. Als wir 1963 ins Schanzenviertel zogen, war die „Flora“ allerdings schon Jahre lang kein Theater mehr, sondern ein Großkino mit 800 Plätzen. Ich selbst erinnere mich daran nicht mehr, denn das Lichtspielhaus schloss bereits 1964, um „1000 Töpfe“ Platz zu machen. Fortan kaufte man im ehemaligen Theater- bzw. Kinosaal Elektro- und Haushaltswaren, Tapeten und Farben. Mein Kinderblick wanderte dann stets nach oben, zur beeindruckend hohen Decke und zur Aufhängung, die vormals den großen Vorhang gehalten hatte. Von früherer Blütezeit zeugten auch die glanzvollen Verzierungen an den Eingangstüren, die schweren Türdrücker mit fünf künstlerisch ineinander verschlungenen Buchstaben: FLORA.
Und schließlich wäre der Schulterblatt für mich nicht der Schulterblatt gewesen, hätte es nicht Celio gegeben, das italienische Lebensmittelgeschäft auf der St.-Pauli-Seite. Ein solcher Laden war damals im Viertel noch einmalig, und ich glaube, meine Mutter kaufte dort niemals ein. Aber die Tochter von Vincenzo Celio war die beste Schulfreundin meiner Schwester, und so gingen wir Geschwister manchmal zusammen in den Laden oder, weit aufregender, in die sich hinten anschließenden Räume. Als Mutprobe schlossen wir uns einmal wechselseitig in den Kühlraum mit seiner dicken, nur von außen mit einem großen Hebel zu öffnenden Tür ein – ein eisiger, nicht zur Nachahmung zu empfehlender Kitzel. Interessanter noch waren die Verkäufer, weil sie untereinander Italienisch sprachen. Wunderbar klangen die fremden Töne, Italien, das war ein echter Traum, denn in der Realität schlicht unerreichbar.
Im Alltag war unser Radius nicht eben groß, aber am Sonntag legte mein Vater Wert darauf, dass wir Kinder „an die gute Luft“ kamen – und dann ging es im Sommer in den Hafen oder nach Planten un Blomen, im Winter ins Museum für Hamburgische Geschichte oder ins Völkerkundemuseum. Alle Wege legten wir grundsätzlich und wie selbstverständlich zu Fuß zurück. Nur wenn im Sommerhalbjahr der Sachsenwald zum Ziel erklärt wurde, fuhren wir mit der S-Bahn (ein Auto besaßen wir nicht). Los ging es stets an der Station Sternschanze, die damals noch Spuren eines vormals „richtigen“ Fernbahnhofs erkennen ließ. Im Bahnhofsrestaurant Sternschanze feierten wir 1973 die Konfirmation meiner Schwester.
Auch wenn meine Mutter mit uns Kindern „in die Stadt“ wollte oder zu Verwandten nach Altona, gingen wir alle Strecken zu Fuß. Der Weg zum Rathausmarkt führte über Schulterblatt, Neuer Pferdemarkt, Neuer Kamp und Feldstraße an den Gerichten und der Musikhalle vorbei (in deren hinterem Gebäudeteil sich mein Kinderarzt befand) über Valentinskamp, Gänsemarkt und Jungfernstieg. Der Weg nach Altona war dagegen eintönig: immer die in Kindeswahrnehmung endlose „Allee“ entlang (die dann gegen Ende meiner Schanzenviertelzeit zur Max-Brauer-Allee wurde, nachdem der frühere Altonaer und Hamburger Bürgermeister 1973 gestorben war). Eine Variante bildete nur die Strecke durch die Julius- und die Bernstorffstraße Richtung Nobistor, aber dies war, soweit ich es erinnere, einer der tristesten Straßenzüge überhaupt.
Eine Radiusvergrößerung (in jeder Hinsicht) brachte der Schulwechsel ans Kaifu 1971. Eimsbüttel stand jetzt im Zentrum meiner Unternehmungen, die Osterstraße und der Isebekkanal, aber auch die Hoheluftchaussee, die mir damals ganz fein erschien und in der meine Mutter nach zehn Jahren Berufspause jetzt bei einer Versicherungsfirma angestellt war. Nicht weit entfernt befand sich auch die erste Bibliothek, die ich je betrat: die öffentliche Bücherhalle im Hamburg-Haus. Hier, am Doormannsweg, bereitete ich mich mit zehn, elf Jahren auf die ersten Referate meines Lebens vor: das erste über das alternative Schulkonzept von Summerhill, das zweite über die Situation von Frauen in ländlichen Regionen Chinas.
Spätere Freunde fragten: "Ach, kann man hier auch aufgewachsen sein?"
Beim Übergang auf das Gymnasium erhielt ich auch meine erste HVV-Monatskarte, die in der ganzen Stadt gültig war. In der fünften Klasse fuhr ich oft nach der Schule mit einem Schulfreund alle Straßenbahnstrecken ab, bis uns vom Geruckel ganz schlecht wurde. In unbekanntes Land etwa führte die Linie 2: „Mengestraße“ klang für uns so unbekannt wie Timbuktu. Also fuhren wir hin. Etliche Jahre, nachdem die Straßenbahnen in Hamburg abgeschafft worden waren, sah ich einen Wagen dieser letzten Hamburger Linie in San Francisco wieder, wo ausrangierte Straßenbahnen aus aller Welt zum Einsatz kommen. Das Endhaltestellenschild „Mengestraße“ war noch immer über der Fahrerkabine zu lesen, auch wenn es jetzt nicht mehr nach Wilhelmsburg ging, sondern die Market Street rauf und runter. Zu schade fand ich es als Kind, dass am Schulterblatt keine Straßenbahnen mehr fuhren; nur ihre Schienen zeugten noch lange Zeit von der früheren Streckenführung.
Als ich 13 war, im Herbst 1974, zogen wir weg aus dem Schanzenviertel und empfanden das damals als Fortschritt, ganz klar. Die letzten sechs Jahre im Elternhaus, bis zum Abitur, verbrachte ich dann in Stellingen, man muss es leider so sagen, an einer der unwohnlichsten Straßen Hamburgs. Der Autolärm der Kieler Straße konnte es locker mit den Bahngeräuschen in der Schanze aufnehmen. Und trotzdem war das Ambiente im neuen Mietshaus ein weit freundlicheres als zuvor; und ohnehin waren Badezimmer und Zentralheizung schon überzeugend genug gewesen, um die Veränderung als Meilenstein zu würdigen. In unser früheres Domizil an der Rosenhofstraße zog eine portugiesische Familie, die sich trotz der Einfachheit der Wohnung über diese ebenso zu freuen schien wie meine Eltern elf Jahre zuvor.
In der Rückschau kündigten unsere portugiesischen Nachmieter einen bevorstehenden Wandel im Schanzenviertel an: In frei werdende Wohnungen zogen vor allem Migranten und vereinzelt auch schon Vorboten einer linksalternativen Szene. Bereits 1969 hatte am Schulterblatt das von mir als Kind gar nicht wahrgenommene, inzwischen aber legendäre (wenn auch 2003 auf die andere Straßenseite gewechselte) griechische Restaurant Olympisches Feuer eröffnet, ab den 70er-Jahren folgten dann zahlreiche weitere internationale Geschäfte und Restaurants, die heute in ihrer Vielfalt die Schanze prägen, als Trendsetter etwa die Taverna Romana, die seit 1977 am Schulterblatt italienische und griechische Küche offeriert.
Zugleich wurde das Schanzenviertel zu einem Zentrum unterschiedlicher linker Gruppen; die Grün-Alternative Liste (GAL), die 1982 erstmals in die Hamburgische Bürgerschaft einzog, hatte ihr Hauptquartier an der Bartelsstraße. Jüngere Leute, vor allem Studierende, entdeckten die zunehmend szenige, damals noch bezahlbare Gegend als Wohnviertel, und schließlich übernahmen Film-, Werbe- und EDV-Firmen die mittlerweile sanierten Höfe des Schulterblatts. Im Jahre 2008, durch dasselbe Gesetz gegründet wie der Stadtteil HafenCity, wurde Sternschanze sogar ein eigener Stadtteil, ein besonders dicht besiedelter, von der Fläche her aber der kleinste der 104 Hamburger Stadtteile. Gegen die historischen Vorzeichen wurde er dem Bezirk Altona zugeschlagen, auch der bisherige St.-Pauli-Teil des Schulterblatts und mit ihm die Rosenhofstraße.
Ich selbst war schon von Ende der 70er-Jahre an wieder regelmäßig in meinem alten Viertel unterwegs gewesen, eben um abends mit Freunden auszugehen, in Kneipen und günstige Restaurants, die es alle in meiner Kindheit wenige Jahre zuvor noch nicht gegeben hatte, oder um, dann ab 1991, im 3001-Kino an der Schanzenstraße slowakische oder mongolische Filmreihen zu sehen. Das Schanzenviertel war unter meinen Freunden jetzt ausgesprochen beliebt, aber wenn das Gespräch zufällig darauf kam, dass ich dort groß geworden war, dominierte die Verwunderung: „Ach, hier kann man auch aufgewachsen sein?“
Heute bin ich nicht mehr häufig am Schulterblatt, und wenn es mich an einem Sommerabend doch dorthin verschlägt, ist mir die Open-Air-Szenerie – obwohl ich es liebe, abends draußen zu essen – manchmal zu aufgeputscht, zu viel. Nach wie vor aber gehe ich zu meinem türkischen Friseur Cem an die Susannenstraße, der nicht nur die Haare kürzt, sondern stets noch eine großartige Kopf- und Nackenmassage folgen lässt. Die Friseure in dem kleinen Laden repräsentieren fünf, sechs Nationalitäten bzw. Herkunftsländer und sprechen insgesamt wohl ein knappes Dutzend Sprachen fließend. Manchmal mache ich bei dieser Gelegenheit auch einen kurzen Abstecher zum Tee-, Kaffee- und Pralinenladen Stüdemann, einer Institution am Schulterblatt, und spreche mit den Stüdemann-Schwestern über ihr elterliches Vorgängergeschäft, das sich von 1954 an im Altonaer Abschnitt des Schulterblatts zwischen Eifflerstraße und Allee, von der heutigen Ladenlage aus gesehen noch hinter dem Bahndamm, befand. Der kleine Flachbau ist längst verschwunden, aber den Geruch dieses in meiner Kindheit exquisitesten Ladens habe ich noch in der Nase. Die Stüdemann-Schwestern erfreut dies stets, als erzählte ich es ihnen zum ersten Mal. Dann sprechen wir noch wie Veteranen darüber, dass es auch Bäcker Kumpfmüller mit seinen unschlagbaren Brötchen, damals direkt neben dem alten Stüdemann-Laden, seit ewigen Zeiten nicht mehr gebe und überhaupt nur letzte Ausnahmen in der Gegend die Jahrzehnte überdauert hätten. Vom Büromarkt Hansen am Schulterblatt ist dann natürlich immer die Rede (obwohl sich der in meiner Kindheit noch auf der anderen Straßenseite befand) und von Café Stenzel, das zwar erst 1973 am Schulterblatt eröffnet wurde, gefühlt aber dort schon immer ansässig gewesen ist. Mit seinem altmodischen Interieur bildete Stenzel lange Zeit einen beliebten Anachronismus im Viertel, wovon seit einer Frischzellenkur im Jahre 2009 allerdings nichts mehr übrig geblieben ist. Aber gut, ich bin kein Nostalgiker.
Wie auch immer: Kindheitsgegend prägt. Und ich bekomme eben das Schanzenviertel nicht mehr aus dem Pelz. Als Kind der 60er-Jahre wollte ich da gern „raus“, aber heute freue ich mich über so manche Erinnerung, die gerade mit dem einerseits schwierigen, andererseits aber damals schon quirligen Stadtteil zu tun hat, der in dieser Form inzwischen längst Geschichte ist. Diese Kindheitsumgebung hat mich auch ganz gut geerdet, und verbunden bleibe ich ihr; da hat man ohnehin keine Wahl.
Wenn ich in den letzten Jahrzehnten irgendwo in der Welt unterwegs war (nicht mehr nur, wie als Kind so oft, mit dem Finger auf der Landkarte), dann gab es immer wieder diesen Rückbezug, irgendwann auf jeder Reise diesen Moment, in dem ich dachte: Also, dass der kleine Rainer aus dem Schanzenviertel einmal hier in New York, Shanghai, Kapstadt stehen würde, nein, das war wirklich nicht zu erwarten gewesen, damals. Dann freue ich mich immer wieder staunend über die in jeder Hinsicht weiten Wege, die sich vom Schulterblatt aus zurücklegen ließen, ohne die Verbindung zu ihm ganz zu verlieren.