Hamburg. Alles Kreative ist erlaubt bei Kristjan Järvi und dem Baltic Sea Philharmonic Orchester. Eine Klangreise der besonderen Art.

Die 2008 aus einem Jugendorchester auf der Insel Usedom hervorgegangene, von Kristjan Järvi mitbegründete Baltic Sea Philharmonic ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Allein schon deshalb, weil ihre jungen Musikerinnen und Musiker aus verschiedensten Ostseeanrainerstaaten bereits Erreichtes nie allein als Ziel, sondern immer als Ausgangspunkt auf dem Weg zu neuen Experimenten verstehen.

Alles Kreative ist erlaubt und Järvi gelingt es, die in gemeinsamen Arbeitsphasen freigesetzten Kräfte der jungen Leute zu bündeln und zu einem Gesamtkonzept zusammenzufügen. Zu Beginn des Projekts „Nutcracker Reimagined“ strömten die Orchestermitglieder am Dienstag aus allen Richtungen spielend, aber auch singend aufs Podium der Elbphilharmonie.

Die improvisiert wirkenden Akkordfolgen waren Fragmente aus dem berühmten Adagio „Nimrod“ von Edward Elgars Enigma-Variationen op. 36, das erst Gestalt annahm, als Kristjan Järvi fröhlich lächelnd in die Mitte des Podiums trat. Dabei drehte er sich immer wieder zum Publikum um und vermittelte ihm das Gefühl, dass jeder Einzelne ebenfalls zum Orchester gehörte, auch wenn niemand einen Ton von sich gab.

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In seiner geschickt arrangierten „dramatischen Nussknacker-Sinfonie“, wie er es nennt, bedient sich Järvi frech an Tschaikowskys Ballettmusikvorlage und verbindet Teile davon nicht nur mit Zitaten aus Edvard Griegs Klavierkonzert, sondern auch mit Eigenkompositionen von Mitgliedern seiner Baltic Sea Philharmonic.

Die bekannten Hits wie der russische Tanz Trepak oder der Blumenwalzer gehören selbstverständlich auch dazu, aber Järvi verwendet auch speziellere Teile von Tschaikowskys Partitur, die man sonst weniger wahrnimmt, und instrumentiert sie ganz neu. Die Wirkung war verblüffend, wenn so ein Zitat dann plötzlich abbrach und sich eine sphärische Klangwolke ausbreitete, die allmählich von allerlei Schlagwerk-Geklingel im Hintergrund garniert wurde. Mit flüsternden Lauten sprach Järvi dabei in Richtung Publikum, ein Englischhorn-Bläser trat in den Vordergrund und zwei Harfenistinnen leiteten mit Arpeggien zum Adagio aus Griegs Klavierkonzert über.

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Das Klaviersolo spielte natürlich eine Orchestermusikerin, die litauische Pianistin Gabrielė Bekerytė, die derzeit an der Berliner Universität der Künste ihr Masterstudium absolviert. Klar, dass nach dem butterweichen Schlussakkord dieses zauberhaften Satzes nicht gleich das Finale des Grieg-Konzerts folgte, sondern erst mal wieder Tschaikowsky und ein Ausschnitt aus Sven Helbigs „Bell Sound Falling Like Snow“. Bevor es dann zu Johnny Klimeks und Tom Tykwers „Precision“ überging, wurden dann aber doch noch immerhin die letzten Takte aus Griegs Klavierkonzert mit dem hymnischen Thema nachgeliefert.

Später durfte die Pianistin dann bei etwas anderen Sounds ihre Hände in den Korpus ihres Flügels legen und die Klaviersaiten mit der Handfläche anschlagen. Währenddessen setzte ein Trompeter sein Instrument ab und ging zu einer Art Body-Percussion über, indem er mit den Händen auf seine Brust schlug.

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Dass Järvi bei all der Melodienseligkeit seines Programms dann aber auch noch das tiefromantische „Schwanenlied“ von Arvo Pärt anstimmte und auf einen dissonanteren Kontrast verzichtete, war vielleicht etwas schade. Funktioniert hat sein „Nussknacker“ aber trotzdem prächtig.

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