Hamburg. Stefan Kaegis jüngste Arbeit gibt es auf Kampnagel. Ohne Performer, dafür aber mit Spiegelwand. Und plötzlich macht jemand was.

Man kennt Stefan Kaegi als Teil des Regiekollektivs Rimini Protokoll, aus dessen Feder einige der interessantesten Dokumentartheaterstücke der vergangenen 20 Jahre stammen. Dokumentartheater, das heißt: Mit Tanz hat Kaegi im Grunde kaum Berührungspunkte. Seine jüngste Arbeit „Spiegelneuronen“, aktuell auf Kampnagel zu sehen, hat er allerdings in Zusammenarbeit mit dem Berliner Tanzensemble Sasha Waltz & Guests entwickelt, und das kann man mit Fug und Recht als abstruse Paarung interpretieren. Oder als ungewöhnliches Experiment.

Erster Eindruck: Es gibt keine Performer. Der Vorhang hebt sich, und der Blick fällt auf – eine Spiegelwand. Leise hebt elektronische Musik (Tobias Koch) an, sachte wird der Saal heller (Licht: Martin Hauk), langsam erkennt man sich, seine Nachbarin, das ist jetzt also die Bühne, das bleibt sie auch. Und aus dem Off hört man Stimmen: den Hirnforscher John-Dylan Haynes, die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun, Nora Schulz von Deutschen Ethikrat, sie erklären, was Spiegelneuronen eigentlich sind.

„Spiegelneuronen“ auf Kampnagel: Sind wir die Versuchskaninchen?

Grob gesagt: Funktionen im Gehirn, die dafür sorgen, dass wir bestimmte Aktionen des Gegenübers imitieren. Zum Beispiel, dass wir ebenfalls lachen, wenn jemand lacht. Oder, dass wir gähnen, wenn jemand gähnt. Oder, dass wir uns bewusst entscheiden, nicht mitzuspielen, weil wir das doof finden.

Und plötzlich macht jemand etwas. Er hebt den Arm, wie, um sich zu vergewissern, dass er wirklich derjenige ist, den er da im Spiegel sieht. Und jemand anders tut es ihm nach, er imitiert den ersten. Unvermittelt ist immer mehr Aktion im Publikum, die Musik wird lauter, die Bewegungen intensiver. Und die Stimmen aus dem Off scheinen zu kommentieren, was da vor sich geht: „Something is happening.“ Ist das eine Versuchsanordnung? Und wir sind – die Versuchskaninchen?

Spiegelneuronen: Der eigene Fuß wippt im Takt mit. Mist, erwischt.

Nach einer Weile wird einem klar, dass die Bewegungen nicht instinktiv passieren: Sie werden angestoßen, und das Publikum übernimmt sie, dank seiner Spiegelneuronen. Es gibt nämlich sehr wohl Performer. Sieben Tänzerinnen und Tänzer aus Sasha Waltz’ Kompanie sind im Saal verteilt und geben einen ersten Impuls, der sich dann weiterverbreitet: eine Schwimmbewegung, ein Winken, nach einiger Zeit sogar ein echter Tanz.

Der Beat hebt an, die Musik wird ohrenbetäubend, die Zuschauer wiegen sich in einem sanften Rave, und auch wenn man sich vorgenommen hat, nicht mitzuspielen, stellt man plötzlich überrascht fest, dass der eigene Fuß im Takt mitwippt. Mist, erwischt.

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„Spiegelneuronen“ ist raffiniert, es ist technisch perfekt, es ist unterhaltsam, es bietet auch denjenigen, die keine Lust auf Mitmachtheater haben, eine Alternative. Aber obwohl kurz erwähnt wird, dass kollektive Bewegung eine dunkle Seite hat, dass Massenchoreografien in Gewalt kippen können, fehlt dem Abend die politische Schärfe, die man aus Kaegis Arbeiten mit Rimini Protokoll kennt. Bis auf Weiteres erlebt man am eigenen Leib, wie sich Gemeinschaft in Bewegung entwickelt, tiefer geht die Analyse nicht. Wobei das auch schon was ist.

Spiegelneuronen bis 1. Dezember, 20 Uhr, Sonntag auch 16 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20, Tickets unter www.kampnagel.de

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