Hamburg. Beim Konzert des Pianisten im Großen Saal fragt man sich manchmal: Ist das Absicht? Erst schlurft er auf die Bühne, aber dann ...

Tja, was kann man dazu sagen. Wie das Phänomen Ivo Pogorelich beschreiben? Exzentrisch ist er, na klar, das trifft es ganz gut. Eine Legende, vielleicht sogar ein Genie. Aber auf asketische Art. Der eigenwillige Pianist – der in jungen Jahren, als Popstar der Klassik, gern auch mal den lasziven Dandylümmel gegeben hat – wirkt heute, mit Mitte 60, wie entrückt von irdischen Dingen.

Eine angedeutete Verbeugung nach hinten, ein noch knapperes Nicken nach vorne: Das ist erst mal alles, was sich beim Elbphilharmonie-Auftritt als eine Art Kontaktaufnahme deuten lässt. Danach kapselt er sich völlig ab. Die ersten Takte der Sinfonischen Etüden von Schumann klingen noch so, als wäre er eigentlich lieber allein, nicht hier im Großen Saal, vor lauter Menschen. Pogorelich betont das Tastende, das verrätselt Dunkle der Musik. Freude? Oder gar Überschwang? Fehlanzeige. Manchmal scheint er den Notentext fast zu sezieren – den er, schon leicht angegilbt, in Papierform vor sich auf dem Flügel hat.

Ivo Pogorelich in der Elbphilharmonie: Das war reine Tasten-Magie

Mit kühlem Blick leuchtet er in die Leerstellen der Klänge hinein. In den Abgrund, der sich zwischen Bassregister und einem einsamen Ton im Diskant auftut. Da klingt Schumann ganz karg. Aber dann füllt sich die Leere. Und wie. Spätestens ab der fünften Variation demonstriert Pogorelich, womit die Klavieretüden ihren Beinamen „Sinfonisch“ verdient haben. Äußerlich scheint er ungerührt. Aber – was für eine Kraft er aus den Unterarmen in die Hände leitet! Pogorelich, der zu Beginn des Konzerts noch wie in Zeitlupe auf die Bühne geschlurft kommt, hat seine Energie nicht etwa verloren, sondern bloß aufgespart und gebündelt. Die Steigerungswellen, die Schumann inszeniert, rauschen und stürmen in überwältigender Fülle. Wow.

Packender geht es kaum. Und trotzdem ist da eine Distanz zu spüren. Gemessen an der Wucht der Musik, tröpfelt der Applaus zur Pause noch verhalten. Ein Rest Fremdheit bleibt. Auch zu Beginn der zweiten Hälfte. Chopins Mazurken stehen fast auf der Stelle, Pogorelich verweigert sich ihrem tänzerischen Schwung, dehnt kleine Motive, bis sie zu zerfallen drohen. Ist das Absicht? Oder einfach buchstabiert? Dieser Verdacht schießt einem kurz durch den Kopf, auch weil er die Noten vor der Nase braucht.

Ivo Pogrelich: Wunderbar intim und zart tönt die schlichte Melodie

Aber: nein. Natürlich kennt er das alles in- und auswendig. Er will es halt so spröde und stockend, zumindest bei den Mazurken. Erst für die b-Moll-Sonate von Chopin legt er den Schalter um. Nervös, beinahe atemlos drängt die Musik voran, da spielt Pogorelich mit jugendlicher Leidenschaft. Auch der Trauermarsch im dritten Satz schreitet überraschend forsch. Doch für den ruhigen Mittelteil bremst er ab. Und offenbart jenen Klangsinn, für den er so gerühmt wird. Wunderbar intim und zart tönt die schlichte Melodie. Pogorelich lässt den Flügel singen, scheint die Zeit anzuhalten. Das ist unfassbar schön und anrührend. Reine Tasten-Magie. Der Höhepunkt der Sonate, die am Ende geisterhaft davonhuscht.

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Die ersten Bravo-Rufe lassen nicht lange auf sich warten. Und vielleicht hat‘s sogar Pogorelich selbst ein bisschen gefallen. Er wirkt jedenfalls geradezu gelöst, als er sich in alle Richtungen verbeugt. Zupft da womöglich ein Anflug von Lächeln am Mundwinkel? Wer weiß. Der Pianist wahrt seine sphinxhafte Aura – und bleibt auf so viele Arten eine Ausnahmeerscheinung.

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