Hamburg. Der Kommunikationsphilosoph Massimo Leone forscht derzeit zu einem Spezialgebiet der künstlichen Intelligenz. Ein kontrovers diskutiertes Thema.
Massimo Leone ist ein wissenschaftlicher Tausendsassa. Ein Global Player, der sich an vielen unterschiedlichen Orten ebenso zu Hause zu fühlen scheint wie in der digitalen Welt. Der 49-Jährige ist Professor für Kommunikationsphilosophie sowie kulturelle und visuelle Semiotik an der Universität Turin. Er lehrt und forscht außerdem an der Universität Shanghai, ist assoziiertes Mitglied von Cambridge Digital Humanities an der Cambridge University, zudem Direktor des Instituts für Religionswissenschaften der Bruno-Kessler-Stiftung in Trient sowie Lehrbeauftragter an der Universität von Caracas in Venezuela. Zurzeit leitet der Italiener ein europäisches Forschungsprojekt zum Thema „Das Gesicht im digitalen Zeitalter“.
Aktueller Lebensmittelpunkt von Massimo Leone ist aber Hamburg. Als Gast des Hamburg Institute for Advanced Study (HIAS) wird der umtriebige Geisteswissenschaftler bis Ende Juni kommenden Jahres hier forschen, als einer von jährlich etwa 25 Wissenschaftlern und Kunstschaffenden (Fellows), die im Rahmen der Exzellenzförderung der Universität Hamburg die Möglichkeit bekommen, frei von akademischen Zwängen an einem Projekt ihrer Wahl zu arbeiten – im hoffentlich bereichernden Austausch über Fächergrenzen hinweg mit anderen Fellows des Wissenschaftskollegs am Rothenbaum, im Dialog mit jeweils einem wissenschaftlichen Tandempartner und mit anderen Forschenden und Kunstschaffenden aus unterschiedlichsten Fachbereichen in der Hansestadt. Ein zentrales Anliegen des HIAS ist es, dass die exzellenten Gastforscher auch in Austausch mit der Stadtgesellschaft kommen.
Automatische Gesichtserkennung: Ein Problem in Hamburg?
Nach fast fünfjähriger internationaler Forschung arbeitet Massimo Leone nun in Hamburg an einer vergleichenden Studie mit Schwerpunkt auf deutsche Metropolen. Das Ergebnis soll ein Buch sein, in dem es um Interaktionen zwischen digitalem Gesicht und urbanen Räumen geht.
„Ich bin gespannt darauf zu sehen, wie Hamburg die Balance zwischen einer traditionell deutschen Haltung zur Privatheit und den technologischen Herausforderungen unserer Zeit und der Zukunft herzustellen versucht“, sagt Leone. Für seine Studie werden er und sein Team untersuchen, wie verbreitet der Gebrauch von automatischer Gesichtserkennung im öffentlichen Hamburger Raum ist und welche Infrastrukturen und Weltbilder dahinterstehen, nicht zuletzt im Gespräch mit Vertretern verschiedener Interessengruppen.
Dabei soll es um Normen und Gesetze gehen, die den Gebrauch von KI regeln, und selbstverständlich um das Thema innere Sicherheit und Überwachung, aber auch um ökonomische Interessen und deren Grenzen. Massimo Leone: „Wir wollen verstehen, auf welche Art Gesichter erfasst werden und mit welchen Absichten.“ Andererseits will er von Bürgern der Stadt erfahren, was sie von dieser Technologie erwarten und vielleicht befürchten, obwohl fast alle selbstverständlich KI nutzen: „Die meisten Menschen speichern Bilder ihrer Gesichter in großer Menge, ohne zu wissen, ob verantwortungsvoll damit umgegangen wird und wie sicher diese Daten sind.“
Massimo Leone: „Es muss verantwortungsbewusste KI-Entwickler geben.“
Massimo Leone betreibt sozusagen Grundlagenforschung auch für die EU, die seine Arbeit fördert. Letztlich geht es darum, wie KI verantwortungsbewusst genutzt wird und wie KI-Entwicklungen aus Europa sich international behaupten können. „Wir haben zurzeit drei Modelle im Umgang mit KI“, sagt Leone. „Chinas Regierung nutzt KI entsprechend ihren politischen Zielen wesentlich zur Kontrolle. In den USA bestimmen wirtschaftliche Interessen, also der Markt, über den Gebrauch von KI.“ Neben – sozusagen – Wild East und Wild West wolle Europa sich mit einer eigenen Philosophie zur KI behaupten: „Hier soll der Umgang mit KI gesetzlich und normativ reguliert werden. Die Gesetze sollen dafür sorgen, dass die neue Technologie ethischen Überzeugungen verpflichtet ist. Doch der europäische Weg muss auch wettbewerbsfähig sein, weil KI-Anwendungen sich auf einem umkämpften globalen Markt behaupten müssen.“
Massimo Leone ist davon überzeugt, dass es bei der weiteren rasant fortschreitenden Entwicklung von KI, die nicht zuletzt wegen ihrer Komplexität nicht mehr einzufangen ist, verantwortungsbewusste Entwickler geben müsse, gewissermaßen neue Renaissance-Menschen, also humanistisch gebildete Ingenieure, die sich der Risiken ihrer Arbeit bewusst seien – und andererseits sollten Philosophen und Ethiker als kritische Begleiter der technischen Entwicklung die Technologie und deren Möglichkeiten verstehen, über die sie sprechen. Leone selbst arbeitet zusammen mit Computer-Ingenieuren für ein privatwirtschaftliches Unternehmen in Bologna, das KI-Anwendungen entwickelt.
Zu den Mentoren von Massimo Leone zählte Bestsellerautor Umberto Eco
Als Semiotiker hat er es gelernt, kulturelle Zeichen zu lesen (zu seinen Mentoren zählte übrigens der berühmte Fachkollege Umberto Eco, der als Autor durch Romane wie „Der Name der Rose“ bekannt wurde). Deshalb ist es für Leone interessant, die sehr verschiedenen Zeichen in unterschiedlichen Kulturen zu entdecken und zu deuten. „Um zum Beispiel Chinas Haltung zur Gesichtserkennung besser einzuschätzen, muss man wissen, dass das soziale Gesicht in Fernost, unabhängig von politischen Systemen, also auch in Japan und Korea, wichtiger ist als das individuelle Gesicht, es geht weniger um Singularität.“ Diese kulturelle Differenz zu Europa sei beispielsweise während der Pandemie zu beobachten gewesen: „Das Konzept des Masketragens war dort ein anderes: In China wolltest du dich nicht vor anderen schützen, sondern die anderen vor dir.“
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Und die Haltung zu seinem eigenen Gesicht? „Mir ist klar, wie unerkennbar unser Gesicht für uns selbst ist. Wir können unser Antlitz nur indirekt visuell wahrnehmen: im Spiegel oder auf Bildern sowie im Film. Das Gesicht ist zwar seit unserer Geburt die wichtigste Verbindung im sozialen Miteinander, doch müssen wir akzeptieren, dass diese Schnittstelle uns verborgen bleibt. Obwohl unser Gesicht so wichtig ist, kennen wir selbst es an sich nicht.“