Hamburg. Der Pianist hebt mit der unbändigen Kraft seines Spiels das Publikum am Ende aus den Sitzen. Ein denkwürdiger Konzertabend.
Darf man das eigentlich? Und ist das überhaupt noch Schubert? Wenn die Forte-Passagen so kantig in die Tasten gemeißelt sind, wenn der Fluss der Musik an anderen Stellen ins Stocken gerät und fast versiegt? Ja, natürlich darf man. Und es ist auch noch Schubert. Aber halt aus einer sehr persönlichen Perspektive betrachtet. Von Fazıl Say, der Schuberts B-Dur-Sonate mit seinen Emotionen durchlebt.
Beim umjubelten Auftritt in der Laeiszhalle demonstriert der Pianist mal wieder, dass er zu den eigenwilligsten Künstlern der Klassik gehört. Er nimmt sich viele Freiheiten. Für das Tempo, das er dehnt und dann wieder anzieht. Oder die Ausbrüche, die er in den Flügel donnert. Solche Extreme könnte man als manieriert empfinden, gerade weil Say sein Spiel so gestenreich ausformt. Er wiegt den Oberkörper im Takt, scheint Töne mit den Händen in der Luft weiterzutragen. Manche Momente wirken fast wie Musiktheater auf Tasten.
Laeiszhalle Hamburg: Darf man Schubert so spielen wie Fazil Say?
Das ist für Puristen sicher befremdlich. Aber man kann das auch ganz anders wahrnehmen und sich packen lassen. Von der Energie, von der Hingabe und dem unbedingten Ausdruckswillen, mit dem Fazıl Say Steigerungen zuspitzt, Kontraste aufreißt und Abgründe auslotet. Die letzte Sonate von Schubert, wenige Monate vor seinem Tod entstanden, wirkt hier weniger entrückt als sonst – weil der Pianist das Aufbegehren der Musik betont. Selbst im Andante sostenuto, das sich aus dem Diesseits wegzuträumen scheint, hackt Say plötzlich harte Akzente rein. Wie Schmerzensschocks aus der Realität durchzucken sie das Idyll. Klare Botschaft: Hier geht es ans Eingemachte. Immer.
In diesem aufwühlenden Schubert steckt schon eine Menge Fazıl Say. Dass er die zweite Konzerthälfte im Rahmen der ProArte „Meisterpianisten“-Reihe mit eigenen Werken bestreitet, ist da nur konsequent. Der komponierende Pianist spielt die Sonate „Yeni hayat“, er präsentiert seine ohrwurmsatten Balladen, die virtuos groovenden Jazz Fantasies und natürlich seinen größten Hit: das wunderbare „Black Earth“, bei dem er die Klaviersaiten mit der linken Hand abdämpft und so einen Sound erzeugt, der an die Saz-Laute erinnert.
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Was alle Stücke und ihre Aufführungen vereint, ist die oft wie improvisiert anmutende Spontaneität und eine mitreißende Körperlichkeit. Wenn Fazıl Say die rhythmische Wucht der Musik freisetzt, dann hat das manchmal etwas von Naturgewalt. Diese unbändige Kraft hebt das Publikum – darunter viele Mitglieder der türkischen und türkischstämmigen Community – am Ende aus den Sitzen.
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