Hamburg. Alexander Posch ist hauptsächlich Literaturveranstalter. Manchmal schreibt er auch. Ziemlich gut übrigens. Und gerne versponnen.

Wenn man im Vorort lebt, wenn Gemächlichkeit und Tristesse gräulich ins Gemüt sickern, wenn das Einkaufscenter der einzige Hotspot ist? Dann, ja dann, hilft nur magischer Realismus. Dann muss man wie Alexander Posch der Gabriel García Márquez Rahlstedts sein, um nicht 100 Jahre Einsamkeit zu erleben. Also, ein Vogelnest – es ist riesig! – auf dem Balkon, vielleicht gerade nicht in Rahlstedt, sondern sogar noch ein bisschen weiter draußen. Der Erzähler hat den Horst nur halb interessiert verfolgt; er ist nicht der allergrößte Tierfreund.

Aber mit der Kamera aufgenommen hat er die Küken dann doch mal. Und unabhängig davon, oder vielleicht auch nicht, kommt das gewaltige Muttertier plötzlich angeflogen. Und greift sich den Erzähler! Eben noch war man als Lesender in einer nur dezent fremdartigen Szenerie, immerhin verlangt eine Seuche nach Schutzanzügen, das ist verzerrt einfach nur die Epoche von Corona.

Aber dann, aber dann: „Plötzlich steuert der Vogel direkt auf den Balkon zu. Ich will noch schnell in die Wohnung hasten, doch mit seinen Klauen packt mich der Vogel am Hemdkragen. Wie leicht ich bin, denke ich und verliere den Kontakt zum Boden. Der Vogel fliegt dann einen großen Bogen mit mir. So einen Blick hatte ich noch nicht. Ich sehe alles: die Fabriken, den Fluss, die Kirche, den Friedhof. Dann schmeißt mich der Vogel über der offenen Grube des Schlachthofs ab.“

Neues Buch von Alexander Posch: Magie, die sich im Grusel zeigt

Wow. Vor allem das Vogel-Inferno – „dort fliegen Dutzende von diesen Viechern“ – über der Grube. Der arme Mann muss Schutz unter den Kadavern suchen. „Die Brut“ heißt die Kurzgeschichte in Alexander Poschs neuem Erzählungsband „Tage zählen“. Sie ist sicher eine von denen in dieser Textsammlung, in denen die Magie sich am deutlichsten im Grusel zeigt. Wir verraten hier aber, dass der Vogelbeobachter heil aus der Sache herauskommt. Er zieht dann aber lieber um.

Autor
Autor Alexander Porsch lebt in Rahlstedt. © Tanja Baechlein | Tanja Baechlein

Posch, 1968 in Hamburg geboren und in seiner Geburtsstadt seit vielen Jahren als Literaturveranstalter in der Nische aktiv, erweist sich in seinem neuen Buch als Könner im Kleinen. Die meisten dieser Prosa-Miniaturen sind lediglich vier, fünf Seiten lang, und sie machen aus einem öden Ort der Langeweile einen, an dem Geheimnisse blühen. Bäume können hier flüstern, ist wirklich so.

Aber es ist dennoch oft ein Albdruck, der auf den Straßen lastet. Eine aktive Aggressivität wie im Wendehammer. Dort stehen der Porsche Cayenne und der Ford Mustang des Radiologen Dr. Islinghausen. Als Autoleichen. Abgebrannt, Publikumsmagnet: „Einige kommen aus Schleswig-Holstein angereist. Weltgeschichte en miniature.“

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Was ist da passiert? Sozialneid? Wird alles aufgeklärt, aber an dieser Stelle nicht verraten. In vielen der Geschichten geht es übrigens um Kindheit und Familie, ums Vatersein. Um, genau: die Brut. Die ist oft witzig, aber auch latent anstrengend. Ist ja nicht einfach, das mit den Kindern und dem Versorgerstatus. Wie in der Story „Kulturelles Unterholz“ – Kunst, Prekariat und Stipendien spielen auch keine kleine Rolle in diesem Band –, in der das Erzähler-Ich mit Kind und knapper Kasse unterwegs ist, während sein Künstlerfreund Ansgar mit seinem Werk „Impfling“ stinkreich wird.

„Tage erzählen“ von Alexander Posch: Kurzgeschichten mit Magie

Dabei ist Ansgar, dessen Schicksal wir nicht spoilern wollen, halt überzeugt von der Kinderlosigkeit: „Wer eine Familie gründet, kommt mir vor wie einer, der in einen Topf scheißt und ihn sich über den Kopf stülpt.“ Soll laut diesem Ansgar angeblich Montaigne gesagt haben, is‘ klar.

Buchcover
Das Buchcover von Alexander Poschs „Tage zählen“, Minimal Trash Art, 160 S., 16 Euro © MTA | MTA

In „Turandot – die Platte meines Lebens“ schlägt ausgerechnet beim Puccini-Hören der Blitz ein. Die Hochspannungsleitung hat‘s getroffen, sie schmilzt. Irgendwie auch eine Form von Magie, wenn ganz Rahlstedt brennt, zumindest in der Fantasie zweier Heranwachsender, die sich da am Plattenschrank der Eltern gütlich getan haben. Das Übersinnlich-Surreale war auch in Poschs Debütroman „Sie nennen es Nichtstun“ ein Faktor. Mit seinen von düsterer Komik durchzogenen neuen Geschichten überzeugt der Hamburger nun abermals.

Alexander Posch stellt sein neues Buch, jeweils mit Autorenkollege Michael Weins, an zwei Terminen in Hamburg vor: am 7. November im Nachtasyl und am 28.11. auf der Lesebühne Zinnober.

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