Hamburg. Bunt, verrückt und mit einer kalten Dusche am Ende. Die US-Sängerin begeisterte in der Barclays Arena 10.000 Fans mit Pop-Extravaganz.

Ungefähr zehn Minuten sind vergangen, als der skeptische Blick nicht auf Melanie Martinez auf der Bühne der Barclays Arena fällt, sondern auf den Becher mit Alsterwasser in der Hand: Irgendwas wurde am Getränkestand da hineingemischt. Definitiv nicht nur Bier und Brause. Die US-Sängerin aus New York ist gerade mit „Cry Baby“ und „Dollhouse“ in den Abend eingestiegen, inszeniert als Mini-Puppe in einem durch geschickte LED-Videoeffekte hinter ihr drohenden Kinderzimmer. Vor ihr tanzen vier große, lustige Glückshasen. Was zum ...?

Klar, Melanie Martinez, vor zwölf Jahren in der US-Castingshow „The Voice“ entdeckt, war schon immer anders als die anderen transatlantischen Platinstars von Taylor Swift bis Olivia Rodrigo. Das zeigte sie schon 2016 und 2019 bei ihren Hamburger Clubkonzerten im Gruenspan und im Docks. Aber jetzt, vor 10.000 jungen, kreischenden, weiblichen Fans dreht sie auf einem meterhohen Podest völlig frei. Oder zieht ihr ganz eigenes Ding komplett durch. Oder beides.

Melanie Martinez in Hamburg: Eine breite Zutatenliste

Auf ihren drei Alben „Cry Baby“ (2015), „K-12“ (2019) und „Portals“ (2023) entwirft die jetzt 29 Jahre junge Künstlerin einen schillernden, aber im lyrischen Hintergrund auch bissigen und sarkastischen Klangtanz zwischen Art Pop, Progressive Rock, Electro, K-Pop, Hip-Hop und Cabaret. Musikalisch ist das eine breite Zutatenliste zwischen Björk und Dresden Dolls, Pink, Lana Del Rey und Kate Bush. Und in der Revue in Hamburg, die sich chronologisch zwei Stunden lang an ihren drei Alben entlangzieht, fällt Mary Poppins in den Kaninchenbau und landet mit Alice im Wunderland, in dem gerade – begleitet von einer Liveband – ein Teletubbies-Musical zusammen mit der Monster AG aufgeführt wird. Oder so ähnlich. Ey, es war wirklich nur ein Alster!

Dass in Hamburg, während Martinez „Carousel“ und „Play Date“ singt, gleichzeitig in den Messehallen die Polaris Convention für Gaming, Anime, Manga und Pop stattfindet, kann kein Zufall sein. Es passt alles so zusammen. Die TikTok-Hektik auf Hunderten hochgehaltenen Handys, die Licht- und Farbenspiele, die Fans, die sich wie Cosplayer mit Rüschenkleidern (220 Euro am Fanartikelstand) für diesen Konzertabend verkleidet haben und „Pity Party“ komplett durchsingen, während meterhohe Kerzen am Bühnenrand hochgefahren werden.

Einige Eltern geben ihre Show-Überforderung zu

Laser, Nebel, regnende Luftballons, blinkende Herzen, Flammenwerfer, eine Wippe, Martinez als Marionette, Ballett und Artistik. Riesige Pilze (aha!), diverse lange Kostümwechsel, ein Drache, ein Oktopus, ein Spinnennetz. Man hat den Songtiteln entsprechend irgendwann „Tunnel Vision“ in dieser „Light Shower“-Effektdusche. Da auch die Songs und ihre Arrangements gern mit herkömmlichen Strukturen brechen, verlieren sich Ordnung und Chaos in Zeit und Raum. Einige Eltern, die sich ins Foyer retten, geben ihre Überforderung zu.

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Aber dann bedankt sich Martinez am Ende nach „Womb“ und einer bis dahin so spektakulären, bis auf einen Ausrutscher perfekten, aber auch unpersönlichen Show beim Publikum. Und ruft, während eine Palästina-Fahne hochgehalten wird, auf Kommando mit dem Publikum: „Free Palestine!“ Dieser Haltung mag man zustimmen oder mit Ablehnung begegnen. Aber in jedem Fall ist es ein unvermittelter Rauswurf in die brutale Wirklichkeit, ein Weckruf aus einer Hypnose. Das Portal in die Popwelt von Melanie Martinez hat sich wieder geschlossen.

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