Hamburg. Der große Charismatiker unter den Rocksängern hielt seine Messe ab. Es war eine Ode an die Freude, und er schrie sie heraus.
- Nick Cave legt Tour-Stopp in Hamburg ein und begeistert
- Kraftvoll und mit viel Herzblut gibt er Vollgas auf der Bühne
- Es ist eine perfekt orchestrierte Messe – mit Romantik und Rock ‘n‘ Roll
Das Dümmste, das man über ein Konzert des Musikers Nick Cave sagen kann, ist: Da ist einer, der nimmt ein Bad in der Menge. Der geht auf Tuchfühlung mit seiner Kundschaft. Nicht nur, weil es sprachlich extrem abgegriffen ist, nicht wahr; der große Pop-Lyriker Cave ist ein Betrachtungsgegenstand, bei dem sich stilistisches Larifari verbietet.
Nein, wie beim mitreißenden, stimmungsvollen, ekstatischem Konzert des Aura-Magikers Nick Cave am Dienstagabend, 8. Oktober, (nach der formidablen Support-Band Dry Cleaning) in der Barclays Arena einmal mehr deutlich wurde: Das ist der Mann, bei dem die popkulturelle Verschmelzung zu einem Höhepunkt kommt. Nix baden, transzendieren in der Vereinigung!
Cave, der gerade das neue, glorreiche Album „Wild God“ veröffentlicht hat, stürmte wie ein wilder Gott des Getobes über die Bühne und steuerte dabei immer wieder die ersten Reihen an. Hände ergreifen, Gesichter ansingen – es ist immer, als würde er seine schöpferische Kraft quasireligiös an die Glaubensgemeinde weitergeben. Und gleichzeitig von jedem emporgerecktem Arm Energie abgreifen.
Nick Cave in der Barclays Arena in Hamburg – ein wilder Gott des Getobes
Die neuen Stücke eröffneten dieses wie erwartet denkwürdige Konzert in der sehr gut gefüllten Barclays Arena. „Frogs“ und „Joy“ und „Wild God“, diese muskulösen Stücke der Ode an die Freude, die das neue Album darstellt, sind auch live ein Erlebnis. Nick Cave, der zwei Söhne verloren hat, ist kein Prediger der Trauer mehr. Oder zumindest ist es so, dass er dem Verlustschmerz etwas entgegensetzt.
In Hamburg tat er das wie gewohnt kraftvoll.
Seine Stimme, es ist die eines mittlerweile Mittsechzigers, füllte den gesamten Raum. Sie durchdrang die Reihen bis nach ganz hinten und nach ganz oben, und man konnte sich nicht vorstellen, dass es einen Substanzverlust gab. Konzerte von Nick Cave und seinen wie immer formidablen Bad Seeds sind oft als Messen beschrieben worden. Und das sind sie auch, weil Nick Cave dies so will.
Perfekt orchestrierte Messe – Romantik und Rock ‘n‘ Roll
Das aktuelle Album spielten die Musiker (inklusive vierköpfigen Backgroundchor) bei dieser zweieinhalbstündigen Show fast komplett. „Song of the Lake“, von Cave als „komplexer, sehr komplizierter Song“ angekündigt, war der erste schwermütige Höhepunkt. Dann schon das fantastische, sich drangvoll aufbauende „Jubilee Street“ von Caves (vielleicht) bestem Album „Push the Sky Away“.
Die alten Großtaten wurden weitflächig bedacht, pro Album ein Stück, so ungefähr. Cave, immer noch der bestangezogendste Fahrensmann des Rock ‘n‘ Roll, reiste zurück in sein so reiches, reiches Werk, und was er dabei mitbrachte, war der überzeugendste Schmerzensmann-Katalog des Rock ’n’ Roll. „From Her To Eternity“, „Red Right Hand“, „The Mercy Seat“, „Tupelo“, das waren intensive Performances. Die Dramaturgie war gut durchdacht, auf jedes Toben folgte eine balladeske, romantische Erholung („Long Dark Night“, „Cinnamon Horses“), und wenn Cave Warren Ellis, seinem künstlerischen Partner seit vielen Jahren, Extraapplaus gönnte, wusste man immer, warum. Ellis ist dasselbe Derwisch-Modell wie Cave. Und wie perfekt die Kameraschnitte auf der Leinwand die Dynamik der Songs abbildeten.
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Amen, wir brauchen Nick Cave
Wenn jemand keinen Song von Nick Cave kennt, keinen einzigen, und auf eines seiner Konzerte wie das jetzt geht? Dann kennt er danach das ganze Universum. Mit all seinen Leidenschaften. Bei „I Need You“ saß Cave wie so oft an seinem Piano. Man lauschte ergriffen („I need you/In my Heart“), und man verstand.
Nick Cave weihte mit hypnotischen Liedern wie „Conversion“ (göttlich!) und „Bright Horses“ die Barclays Arena, die viel mehr als eine Multifunktionshalle an diesem Abend war. Nämlich die Kirche des heiligen Nick, der seinen Schmerz in Freude formte, als er sang, schrie, barmte und lachte. Möge er ewig leben, wir brauchen ihn.
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