Hamburg. Mehr als 1000 handgemachte Produkte: Die Berliner Künstlerin Silke Thoss verkauft in der Seilerstraße Koks-Creme und „Machos“ – und vieles mehr.

Zwischen der Kinderkrippe Zapperlott und der Galerie „Kleine Gegenwart“ lädt eine einfache Holzbank ein, sich vor dem bunt dekorierten Schaufenster niederzulassen: mit einer Limo, einem Bier oder vielleicht auch einem Eis. Die Aufsteller auf dem Gehweg davor werben für Zeitschriften, so wie es jeder normale Kiosk tut. Nur, dass beim genauen Lesen „Bild ohne Frau“ und „Der Spiegel“ „mit Mann“ daherkommt und es drinnen einen „Jackpot of Love“ beim Lotto zu gewinnen gibt. Die Chips im Fenster heißen „Machos“ (statt Nachos), die Schokoriegel „Blues“ oder „Freedom“ – beide für jeweils schlappe 39 Euro.

„Hier gibt es keine echten Sachen“, hört man Silke Thoss mit ihrer rauen und zugleich fröhlichen Stimme einer Gruppe Touristen zurufen, die in ihren Laden an der Seilerstraße gekommen ist, um sich mit Mineralwasser zu versorgen. Die Leute müssen laut über sich selbst lachen, als sie merken, dass die Produkte, die hier so schön bunt angepriesen werden, zwar Objekte zum Kauf, aber nicht zum Verzehr sind, und sie in Hamburgs erstem Kunst-Späti gelandet sind. Vor einer Woche hat die Berliner Künstlerin, die sich kurz Silky nennt, in einem Atelier auf St. Pauli ihre temporäre Ladengalerie eröffnet.

Neueröffnung: Was es in Hamburgs erstem Kunst-Späti zu kaufen gibt

Die 55-Jährige trägt ein knallgelbes Shirt mit der Aufschrift „Never mind the Gallery, here‘s the Silky Späti“. Auf dem Tresen stehen Feuerzeuge und Lollis, im „Kühlschrank“ an der rechten Wand warten Sektflaschen Marke „The Joy of Boredom“ und „Mental Moment“ auf durstige Käufer, auch „Koks Backstage“-Creme und Freddy-Mercury-Zahnpasta können mit EC-Karte, Visa oder Amex bezahlt werden, so weist es ein handbemaltes Schild aus. Alles, wirklich alles ist in diesem besonderen Kiosk von Hand hergestellt. Rund 1000 Produkte bietet Silke Thoss an. Sie sind aus Pappmaché gefertigt und mit Acrylfarben bemalt.

Alles, was das Herz eines Kioskbesuchers erfreut: Eistruhe, Süßigkeiten-Regal, Bier im Sixpack (sogar als Iggy-Pop-Edition): The Silky Späti in der Seilerstraße 28.
Alles, was das Herz eines Kioskbesuchers erfreut: Eistruhe, Süßigkeiten-Regal, Bier im Sixpack (sogar als Iggy-Pop-Edition): The Silky Späti in der Seilerstraße 28. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Nach Frankfurt, Zürich und Köln ist es schon der sechste Kunst-Späti. Angefangen hat alles vor ein paar Jahren in einer leer stehenden Lagerhalle im Münsterland, wo ein Freund eine Ausstellung plante und Silky die Idee zu einem Tante-Emma-Laden mit Kunstobjekten hatte. Das Thema: alles für die Hausfrau, von Beauty-Produkten über Kochhilfen bis Putzmitteln. Auch ihre ersten Produkte – „Ariel. Für die reine Weste“ und der „Dicke Eierlikör“, mit dem Versprechen „Dann klappt’s auch im Beruf“ – kann man in der Seilerstraße bestaunen. Die Hamburger Galerie Oberfett übernahm die Ausstellung; sie war ein großer Erfolg, „der Laden wurde komplett leer gekauft“, so Silky.

Auf Festivals verkaufte Silke Thoss ihre Kunst aus dem Bauchladen

In ihrer Wahlheimat Berlin einen Kunst-Späti zu eröffnen lag da irgendwie auf der Hand. „Ich wollte bewirken, dass die Leute denken ‚Oh nee, nicht noch ein Späti!‘ und dann, auf den zweiten Blick, erkennen, dass das etwas ganz anderes ist“, erzählt die Künstlerin. Das Spiel mit dem Erwartbaren, Vertrauten, der verheißungsvollen Werbe-Ästhetik und unterschwelligen Konsumkritik macht den Reiz der Produkte aus. „Der Corona-Lockdown war für mich eigentlich ein Segen. Während Museen und Galerien schließen mussten, durfte ich meine Sachen verkaufen. Die Leute, die zu mir in den Laden kamen, waren total happy, sich zu treffen und auszutauschen.“

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Und auch Silke Thoss hatte ihr Ding gefunden. Eigentlich auf Installationen und Großobjekte spezialisiert, hatte sie lange experimentiert, um ihre Kunst zu verkaufen. Durch den Kontakt zum Art Store in Hamburg kam die Idee, kleine Werke zu Billigpreisen anzubieten. „Ich bin zum Beispiel mit einem Wohnwagen zu Partys und Festivals gefahren und habe aus einem Bauchladen heraus bemalte Fundstücke für damals 20 Mark verkauft.“ Bei Reisen zu ihrer Familie in den USA war sie von der spektakulären Ästhetik der großen Werbetafeln fasziniert. So fing sie an, eigene Produkte mit einem gewissen Twist und Wortwitz zu erfinden.

Von Psycho Flips über Bowie Cheese Balls bis zum Kippenberger (Zigaretten-Burger): Über 1000 handgemachte Produkte aus Pappmaché warten im Kunst-Späti auf das interessierte Publikum.
Von Psycho Flips über Bowie Cheese Balls bis zum Kippenberger (Zigaretten-Burger): Über 1000 handgemachte Produkte aus Pappmaché warten im Kunst-Späti auf das interessierte Publikum. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Künstlerin: „Ich habe manchmal so viele Ideen, dass ich nachts vor Aufregung nicht schlafen kann“

Dass Musik dabei eine große Rolle spielt, die Logos auf Kekspackungen, Ketchupflaschen oder Kirschen im Glas häufig mit Bands und Songtexten spielen, hat mit Silkys vorherigem Leben zu tun: Zwar hatte die gebürtige Osnabrückerin Kunst in Bremen und London studiert, dann aber gleich im Anschluss die Abzweigung Richtung Bühne genommen. Mit einer ungewöhnlichen Kombination aus Punkmusik und Akkordeon („Das Akkordeonspielen habe ich mir selbst beigebracht“) nahm sie mit der Band „Watzloves“ ein erstes Album in der Schweiz auf und ging auf Europa-Tournee. Kleine Editionen wie die „Rock Lobster“-Box inklusive Mikrofon, eine Hommage an B52s, oder das Iggy Pop Sixpack (beide jeweils 249 Euro) zeugen von ihrer Musikbegeisterung.

Eigentlich hätte Silke Thoss auf St. Pauli gerne noch eine Dönerbude nebenan aufgemacht. „Oder gleich eine ganze Straße aus Pappmaché hergestellt. Ich habe manchmal so viele Ideen, dass ich nachts vor Aufregung nicht schlafen kann.“ Vielleicht steht demnächst ein Späti in Wien an. „Und in Amerika würde ich auch total gerne mal ausstellen. Das wäre eine tolle Herausforderung und ein schönes Kompliment an meine Arbeit.“ Was Silky sonst noch draufhat, kann man übrigens gerade in der Galerie Oberfett in der Billrothstraße sehen. Dort präsentiert die Künstlerin in ihrer Ausstellung „Tokk Tokk“ riesengroße Werbetafeln, Schaukästen, eine Pyramide aus Sektflaschen – und natürlich „jede Menge Spaß“.

The Silky Späti bis 28.9., Seilerstraße 28 (U St. Pauli), Di–Sa 16.00–20.00, Eintritt frei; www.silke-thoss.com; Ausstellung „Tokk Tokk“ bis 27.9., Galerie Oberfett (Busse 16, 112 Große Bergstraße), Billrothstraße 67, So 12.00–18.00 und nach Vereinbarung, Eintritt frei; www.oberfett.de