Hamburg. Starke Fotoausstellung im Phoxxi: Ein Künstlerduo geht Verschwörungsmythen humorvoll auf den Grund – man kann sogar selbst welche basteln.

Mit großer Spannung wurde die erste Ausstellung von Nadine Isabelle Henrich erwartet. Seit Februar ist die Kunsthistorikerin und Fotografie-Expertin neue Kuratorin am Haus der Photographie. Und gleich ihr Auftakt-Projekt im Phoxxi ist ein Coup: Sie zeigt das in New York lebende Künstlerduo Andrea Orejarena und Caleb Stein mit ihrer ersten Einzelausstellung in Europa: „Tactics and Mythologies“. Dafür begaben sich die beiden in die Tiefen sozialer Medien und sammelten systematisch Bilder, die in den USA zirkulieren, um Verschwörungserzählungen zu unterfüttern, die Ängste und Spaltungen schüren. Auf einem Roadtrip durch amerikanische Bundesstaaten suchten sie diese vermeintlichen Schauplätze, sogenannte „Glitches“ (Störungen), auf und fotografierten diese.

Wir sehen eine Drohne, die sich dem Hinterkopf einer Abraham-Lincoln-Statue nähert. Bei genauerer Betrachtung ist eine Metallgitterstruktur zu erkennen, die in vielerlei Hinsicht den Eckpunkten ähnelt, die bei 3-D-Modellierungen für virtuell konstruierte Bilder verwendet werden. Eine weitere großformatige Fotografie zeigt ein gespiegeltes Haus in der Wüste, das wie eine optische Täuschung wirkt. Auf Monitoren in Glaskuben gibt es unzählige Beispiele dafür, dass wir offensichtlich in einer Matrix leben: Menschen, die wie doppelte Lottchen exakt gleich gekleidet die Straße entlanggehen, reihenweise rote Autos, die hintereinander parken, vier Vögel, die symmetrisch angeordnet, auf einer Stromleitung sitzen, ein Apfel, der genau zur Hälfte grün und rot ist, Spiegeleier, bei denen das Innere weiß ist.

ANDREA OREJARENA & CALEB STEIN
Alles nur eine 3-D-Modellierung? Andrea Orejarena & Caleb Stein zeigen „Abraham Lincoln & Drone“ von 2021. © Orejarena & Stein. Courtesy Palo Gallery, NY. | Orejarena & Stein. Courtesy Palo Gallery, NY.

Deichtorhallen Hamburg: Undurchschaubare Technologien sinnlich erfahrbar und erkennbar machen

Dass Bildern als Zeugnisse von Echtheit oder Realität mit Skepsis zu begegnen ist, ist mit Erfindung digitaler Bildbearbeitung oder Bildfälschung längst in unsere kulturelle Praxis übergegangen. Laut der Kuratorin sind wir nun in eine noch dynamischere Phase eingetreten: „Gut 20 Jahre nach dem ‚Documentary Turn‘, der fotografische Archive in den Fokus der Kunst verschob, müssen Ereignisse heute nicht mehr stattgefunden haben oder inszeniert werden, um sie fotoähnlich abzubilden. Ein imaginiertes Bild kann im Dialog mit KI visualisiert werden. Es gibt eine Verbreiterung dessen, was wir als fotografisch wahrnehmen. Das sind Prozesse, die künstlerische Praxis transformieren und unseren Blick auf die Fotografie verändern.“

Die Bilder und Videos in der Ausstellung erzeugen ein mulmiges Gefühl, denn sie machen deutlich, wie immens die Einflussnahme und Steuerung durch inszenierte Bilder ist. Zur selben Zeit ist es Andrea Orejarena und Caleb Stein aber auch wichtig, diese Entwicklungen mit Humor und Ironie zu begegnen. Nach Ansicht von Nadine Isabelle Henrich übernehmen Fotokünstlerinnen und -künstler immer mehr eine vermittelnde oder übersetzende Rolle, „indem sie versuchen, Herausforderungen und Potenziale einer Gegenwart mit undurchschaubaren Technologien sinnlich erfahrbar und erkennbar zu machen“. Die Ausstellung ist der Beginn der Reihe „Viral Hallucinations“. Darin geht es um die Schnittstelle zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit, die durch Bilder gelenkt und hergestellt wird, und um Desinformation in visueller Form.

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Heute ist es wichtiger denn je, sich in diesem neu entstandenen, virtuellen Bilderuniversum sicher zu bewegen. Eine grundlegende Orientierung über zentrale Begriffe gibt ein Booklet, das es kostenlos zur Ausstellung gibt: Darin werden Begriffe wie Bots, Cheapfakes, Dark Forest, Halluzinieren oder Erzählgemeinschaften erklärt. Ein spezielles, kostenloses Bildungsprogramm zielt darauf ab, dass man überhaupt versteht, wie Fake News oder Hoax, komplett erfundene Fälschungen, entstehen – nämlich, indem man selbst lernt, an einer Verschwörungstheorie zu basteln und diese viral gehen lässt. Ausstellungen zu präsentieren, die Reibungen erzeugen, Emotionen auslösen, mit der eigenen Lebenswirklichkeit in Kontakt bringen – ihre Vision für Fotografieprojekte in den Deichtorhallen hat Nadine Isabelle Henrich mit dieser Ausstellung exzellent unter Beweis gestellt.

„Viral Hallucinations #1 Tactics and Mythologies: Andrea Orejarena & Caleb Stein“ bis 26.1.2025, Phoxxi (U Meßberg), Deichtorstraße 1–2, Di–So 11.00–18.00, jeden 1. Do im Monat 11.00–21.00, Eintritt 9,-/6,- (erm.), Kinder und Jugendliche bis 18 J. frei; www.deichtorhallen.de