Hamburg. Die Schau „Survival in the 21st Century“ beschäftigt sich mit existenziellen Fragen. Intendant distanziert sich von Künstler-Statement.
Eines darf man sagen: Vor einer möglicherweise heftig geführten Kontroverse scheuen die Deichtorhallen mit ihrer neuen Ausstellung „Survival in the 21st Century“ nicht zurück. Und dabei ist der Ausgangspunkt vergleichsweise unstrittig: Die Installation „Dexter and Sinister“ des US-Kollektivs New Red Order verweist auf die Unterdrückung indigener Völker in den USA. Ein Baum und ein Biber unterhalten sich darin über die Probleme natürlicher Ressourcen im Zuge kolonialer Machtstrukturen und treten für einen Dialog ein.
„Survival in the 21st Century“: Nahostkonflikt erreicht jetzt auch die Deichtorhallen
Doch daneben steht auf rotem Grund eine Erklärung, die Bezug nimmt auf den Nahostkonflikt und in der sich die Kunstschaffenden mit den Palästinensern solidarisieren. Deutschland wird darin aufgefordert, die „bedingungslose Unterstützung Israels“ zu beenden, Waffenlieferungen einzustellen. Es geht um ein Ende der „Belagerung Gazas“ und darum, den „Genozid zu stoppen“. Deichtorhallenintendant Dirk Luckow und auch die beiden Kuratoren haben ein Schild angebracht, in dem sie sich von den textlich formulierten Inhalten der Arbeit distanzieren, sie zugleich jedoch unter den Schutz der Kunstfreiheit stellen.
Im internationalen Kunstbetrieb wird seit Langem erbittert über eine Haltung zu diesem Konflikt gestritten. Dass er nun auch in dieser Ausstellung Thema ist, macht sie noch ein Stück gegenwärtiger, aber eben auch kontroverser. Nein, „Survival in the 21st Century“ ist keine Wohlfühlschau. Man spürt das Ringen der Kuratoren – und der Kunstschaffenden – im Kampf gegen die totale Resignation.
Deichtorhallen: Ein Werk beschäftigt sich mit dem IS-Terror
Es gibt allerdings auch grandiose, nachdenklich stimmende Arbeiten. Alles buchstäblich überragend ist „Variations on a Folly“ (2021) des im Iran geborenen, in Kanada lebenden Künstlers Abbas Akhavan. Sein Werk zeigt den Triumphbogen von Palmyra, der im Mai 2015 von der Terrormiliz IS in Syrien zerstört wurde. Anhand eines 3-D-Modells hat der Künstler nun 19 Säulen aus Strohlehm vor einem Greenscreen errichtet. Das gigantische Werk wirkt wie ein Mahnmal, das Fragen an die Zivilisation – auch an die Hybris der westlichen Kultur – vor dem Hintergrund ihrer imperialen Geschichte stellt.
Ein Moment des Unbequemen, des Widerstandes ist den meisten Exponaten in dieser sich in einer sehr offenen Architektur präsentierenden Schau eingebaut. Das beginnt schon beim Schriftzug des Titels der Ausstellung in schiefen Lettern. Das Wort „Survival“ ist durchgestrichen. Die beiden Macher der Ausstellung, der Journalist und Autor Georg Diez und der Kurator Nicolaus Schafhausen, wurden, seit sie das Projekt vor drei Jahren begannen, immer wieder von aktuellen Ereignissen eingeholt. Die meisten Nachrichten waren schlecht. Die Welt ist seither von neuen Kriegen und Krisen geplagt. Auch ohne sie sind die Themen und Aufgaben unserer Zeit schon gewaltig: Klimawandel, Fragen von Gerechtigkeit, Globalisierung, Technologie, Krise der Gemeinschaft und der Demokratie.
Die Schau kann keine Antworten liefern, aber wenigstens die richtigen Fragen stellen
Die Gruppenausstellung umfasst fast 40 Positionen und ist klug konzipiert, es geht ihr um etwas, das Diez „Polyphonie“ nennt. Um Vielstimmigkeit, ein Hinterfragen von Handlungsmöglichkeiten und Denkbewegungen. Die Schau will – und kann – keine Antworten liefern, aber wenigstens die richtigen Fragen stellen. Und das sind solche wie jene von Akhavan nach der Zivilisation. Oder jene des US-Künstlers Trevor Paglen nach der Technologie. Seinen „Trinity Cube“ (2023) hat er aus verstrahltem Glas aus der Sperrzone am Ort des Atomunfalls von Fukushima erstellt und mit Wüstensand aus New Mexico kombiniert, wo 1945 die erste Atombombenexplosion stattfand.
Spektakulär fragt auch der kanadische Künstler Charles Stankievech nach Bedeutung, indem er einen Meteoriten auf schwarzem Vulkansand buchstäblich zum Schweben bringt und damit, Bezug nehmend auf das Landen eines Meteoriten in der Sahara vor 29 Millionen Jahren, Vergänglichkeit thematisiert. Die Frage nach Widerstand zum Beispiel beim Erkämpfen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung äußert die US-Künstlerin Andrea Bowers in einer erstaunlich fröhlichen Videoarbeit über Demonstrierende und in einer Papierarbeit.
Deichtorhallen: Seltsame Mischwesen in Anzügen driften durch eine Meereslandschaft
Der belgischen Künstlerin Edith Dekyndt geht es um die Schönheit der Begegnung, wenn sie in einer Lichtinstallation die Bewegungen eines Tanzpaares beim langsamen Foxtrott nachzeichnet – und dabei vom Abschied Transatlantikreisender aus dem französischen Saint-Nazaire auf dem Weg ins Exil vor der nationalsozialistischen Verfolgung erzählt. In dem Wandteppich „Who Gave Us A Sponge To Erase The Horizon?” (2022) driften seltsame Mischwesen in Anzügen mit Aktenkoffern durch eine Meereslandschaft. Die polnische Künstlerin Goshka Macuga erinnert damit eindringlich an einen oft vernachlässigten und bedrohten Lebensraum.
„Survival in the 21st Century“ ist vielleicht weniger eine Ausstellung als eine Plattform, die auch mit rund 100 Workshops und Seminaren in die Stadt hineinwirken will und die Idee eines Überlebens mithilfe der Kunst auf der Höhe der Zeit durchspielt. Bei aller Vielfalt und Komplexität wirkt sie sehr konzentriert und ermöglicht auch sinnliche Zugänge.
Mehr Kultur
- Ensemble Resonanz: Hamburg verliert mit Tobias Rempe wichtigen Klassik-Kreativen
- Sir Simon Rattle in der Elbphilharmonie: Eine Mozart-Sensation!
- Thielemann sagt Konzert in Elbphilharmonie ab – Zufall bringt Weltstar als Ersatz
Etwa durch die flauschigen Wesen, mit denen die kanadische Inuvialuk-Künstlerin Kablusiak – bürgerlich Jade Nasogaluak Carpenter – eine andere Facette der Inuit zeigt, um sie aus dem ewigen Kontext des Kolonialismus herauszuholen. Anders als die meisten Arbeiten der Ausstellung laden die niedlichen Figuren ausdrücklich zum Kuscheln ein.
„Survival in the 21st Century“bis 5.11., Halle für aktuelle Kunst/Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1–2, Die bis So 11 bis 18 Uhr, jeden 1. Donnerstag im Monat 11 bis 21 Uhr, www.deichtorhallen.de