Hamburg. Bei den nordischen Klängen der multinationalen Band tanzt sich das Publikum in einen Rausch – oder erstarrt in völliger ritueller Katharsis.

Ein verirrter römischer Legionär läuft im 1. Jahrhundert nach Christus durch den Wald in der Provinz Germanien. Auf der Suche nach seinem Lager stolpert er durch Sümpfe und Grotten, bis er einen Feuerschein in den dichten Baumreihen bemerkt. Als er auf die Lichtung tritt, stehen dort ein Dutzend Barbaren, bekleidet mit Tierfellen, Knochenketten und Schildern. Ein mächtiges Horn erschallt, eine Trommel wird geschlagen, und die Barbaren bilden einen Kreis. Dann beginnt es.

Heilung, die deutsch-dänisch-norwegische Band um Kai-Uwe Faust, Maria Franz und Christopher Juul, ist seit Jahren ein Phänomen in der Live-Musikszene. Das erste Konzert – eher Ritual – auf der aktuellen Tournee nimmt die Besucherinnen und Besucher in Hamburg am Donnerstag mit auf eine Reise in die undurchsichtigen Sumpflandschaften der Vergangenheit.

Konzert Hamburg: Bei der Musik von Heilung hätten den Römern die Knie geschlottert

Nach der Eröffnungszeremonie stimmen die Fans in der Inselpark Arena ein ohrenbetäubendes Wolfsgeheul an, die Show wechselt zwischen kehligem und ätherischem Gesang („In Maidjan“) von Faust und Franz. Den Römern dürften bei solch kriegerischen Klängen und Lautstärken wahrlich die Knie geschlottert haben („Alfadhirhaiti“, „Hakkerskaldyr“).

Heilung performs live in Milan, Italy - 9 Dec 2022
Sängerin Maria Franz verzaubert die Fans mit sphärischen, fast außerweltlichen Gesängen (Archivbild). © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Mairo Cinquetti

In das hypnotisierende Trommeln reihen sich selbstgebaute Streich- und Trommelinstrumente, die eine außerweltliche und ominöse Soundkulisse erschaffen („Asja“, Krigsgaldr“). Dabei werden rituelle Tänze durchgeführt, Kriegerinnen und Krieger zum Kampf eingeschworen, Götter um ihren Beistand und fruchtbare Felder gebeten und sogar ein symbolisches Menschenopfer dargebracht (vermutlich).

Heilung in Hamburg: Das Publikum meditiert und verliert sich in der einzigartigen Show

Die Liedtexte stammen nämlich von Überbleibseln verschiedener alter Sprachen, der Rest ist abgeleitet oder ausgedacht. Von einem textsicheren Publikum lässt sich daher kaum sprechen. Das Wort „Anoana“ beispielsweise bedeutet so viel wie Beschützerin der Erde, der Rest des gleichnamigen Liedes hat keine feste Bedeutung. Trotzdem reicht das eine Wort, um die sphärischen Gesänge von Sängerin Franz auf einer tieferen Ebene zu verstehen und zu fühlen.

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Heilung, das merkt man schnell, versuchen keine historisch akkurate Vergangenheit zu erschaffen. Das Bandkonzept „amplified history“ (verstärkte Geschichte) wird erst durch moderne Technik möglich. Heilung laden stattdessen ein, die geschichtlichen Lücken gemeinsam zu interpretieren, sich in einem rauschartigen Zustand dem Rhythmus hinzugeben („Hamrer Hippyer“) oder meditativ-starr den urmenschlich anmutenden Klängen zu frönen („Tenet“). Nach knapp zwei Stunden flüstert Faust auf Hochdeutsch „Dankeschön“ in das Mikrofon. Ein Bann scheint gebrochen: Die Besuchenden erwachen aus ihrer Trance, kehren zurück in die Gegenwart, an ihre Smartphone-Screens. Bis zum nächsten Ritual.