Bremen. Bei der „Großen Nachtmusik“ zur Eröffnung des Musikfests Bremen wurden neun Orte in der City bespielt. Konkurrenz? Ein Rockkonzert.
Das hätten sich die Verantwortlichen des Musikfests Bremen so vermutlich nicht ausgesucht: Just am Eröffnungsabend zur 35. Auflage, an dem das Festival mit der „Großen Nachtmusik“ diverse Spielorte im Stadtzentrum bespielt, geben die Böhsen Onkelz auf der Bürgerweide ein Open-Air-Konzert. Trauben von Menschen in schwarzen T-Shirts mit dem Emblem der einst umstrittenen Rockgruppe bevölkern die Innenstadt, fröhlich und bierselig laut. Ob die Klänge die filigrane Barockmusik stören werden?
Musikfest Bremen: Eröffnung mit Masaaki Suzuki und den Böhsen Onkelz in der Ferne
Das traditionelle Eröffnungsfest auf dem und rund um den Marktplatz ist ein Volksfest. Das soll es sein, das macht seinen Charme aus. Im Festsaal des Rathauses sprechen Bürgermeister Andreas Bovenschulte, Intendant Thomas Albert und Sponsorenvertreter bei Häppchen und Sekt zu geladenen Gästen; gelegentlich amüsiert man sich darüber, dass die Fraktion der Böhsen Onkelz durch die geöffneten Fenster zu hören ist. Draußen, auf den Stufen zum Petri-Dom, sitzen Passantinnen, Touristen, Familien und fotografieren oder essen Eis. Über ihnen reitet ungerührt der olle Bismarck in Kupfergrün dem norddeutsch blassen Abend entgegen.
Im Dom dann: Stille und Konzentration auf Masaaki Suzuki, den japanischen Altmeister der historischen Aufführungspraxis, und sein Bach Collegium Japan. Die „Große Nachtmusik“ hat dieses Jahr 18 Kurzkonzerte in ihrer Pralinenschachtel, aus der die Besucherinnen und Besucher jeweils drei aussuchen. Von Suzuki gibt es die Bach-Kantaten „O Ewigkeit, du Donnerwort“ und „Jesu, der du meine Seele“. Mutige Entscheidung, diese urprotestantischen Werke mit ihrer kühnen Harmonik in einem solchen Rahmen zu bringen. Aber mit dem Musikfest-Publikum kann man so etwas machen. Leider verwischt die Akustik vieles, obwohl die Sängerinnen und Sänger um den Countertenor Alexander Chance und den Tenor Benjamin Bruns exzellent deklamieren. Immerhin, den exquisiten Stimmklang hört man auch so. Suzuki ist mit seinem eigenen Ensemble spürbar in seinem Element.
Ulrich Matthes rezitiert in der Hansestadt Bremen Lyrik „Übers Meer“
Vor der Kirche steht der Intendant und kratzt sich am Kopf. Ein paar Meter weiter hat sich nämlich um einen jungen Sänger herum ein Kreis von Zuhörenden gebildet. Der singt und spielt auf seiner Gitarre „Tom’s Diner“ von Suzanne Vega und macht mit Bob Marley weiter. Das macht er gut, mit Groove und, offenkundig zum Leidwesen von Thomas Albert, mit Verstärker. Was also tun, ohne für schlechte Stimmung zu sorgen? Albert bespricht sich, telefoniert, dann erscheint ein Mitarbeiter im Musikfest-T-Shirt, der offenbar die notwendige Street Credibility hat. Der regelt das auf Arbeitsebene mit dem Straßenmusiker, man klopft sich gegenseitig auf die Schulter, Störung abgewendet.
Im Festsaal der Bremischen Bürgerschaft rezitiert Ulrich Matthes Lyrik „Übers Meer“, und Olena Kushpler spielt Klavier. Die Pianistin gestaltet die rauschende, rollende Musik von Erik Satie, natürlich Debussy, natürlich Philip Glass, aber auch den unbekannteren Mélanie Bonis oder Cyril Scott glasklar und mit feinem Gespür fürs Timing – was sich mit Matthes‘ unpathetischem, fein nuanciertem Tonfall wunderbar trifft.
Die Gedichtauswahl ist einfach zauberhaft, sie reicht von Colettes „Am Rande eines weißen Strandes“ bis zu Paul Celans „Dein Haar überm Meer“, von seelischer Tiefenschürfung bis zu Ringelnatz‘ urkomischen Betrachtungen eines enttäuschten Gastes, dem beim Besuch eines Familienbades jede Erotik abhandenkommt. Durch die hohen Glasfenster des Festsaals geht der Blick hinaus in die Dämmerung. Trügt es, oder ist das Licht türkisblau? Die Scheinwerfer von Christian Weißkirchers Lichtinstallation kreisen über die Fassaden, halten auf dem Schiffsgiebel von Haus Schütting mit dem Koggenmotiv an.
Musikfest Bremen: Den Kaufhaus-Schriftzug muss man sich bei der Marktplatz-Herrlichkeit wegdenken
Je dunkler es wird, desto mehr zeigt der Marktplatz von der Pracht, die ihm die selbstbewussten Bremer Kaufleute und Bürger über die Jahrhunderte haben angedeihen lassen. Nur den „Karstadt“-Schriftzug, der hinter der Häuserzeile wie ein Memento mori leuchtet, muss man sich wegdenken.
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In der Glocke dirigiert Jérémie Rhorer zur Spätvorstellung Beethovens „Pastorale“. Das Stück ist eher Bild und Kontemplation als Drama und Erzählung, wenn man mal von dem berühmten Gewitter im vierten Satz absieht. Die Akustik der Bremer Glocke entfaltet um die historischen Instrumente des Orchesters Le Cercle de l’Harmonie herum einen berückenden Klangzauber. Der Holzbläsersatz hat streckenweise mit der Intonation zu kämpfen, nun ja. Wirklich schade ist es, dass Rhorer das Stück schnurgeradeaus und ohne metrische Flexibilität dirigiert. So bleibt außer dem beeindruckenden Klangdesign wenig im Gedächtnis.
Es folgen drei Wochen Programm in Bremen, Niedersachsen, den Niederlanden. Auf dem Heimweg strömen wieder die Menschenmassen in den schwarzen T-Shirts. Das Konzert der Böhsen Onkelz ist auch vorbei. Hat überhaupt nicht gestört.
Musikfest Bremen bis 6. September. Infos und Tickets unter www.musikfest-bremen.de