Hamburg. Am zweiten Tag des Internationalen Sommerfestvals feierten die Stücke „Haribo Kimchi“ und „Los Días Afuera“ Deutschlandpremiere.

Dem Gefühl von Fremdheit in der Welt mit gebotener Ernsthaftigkeit, aber auch mit Humor und Musik begegnen und es dadurch vielleicht überwinden – das eint die beiden überzeugenden Theaterperformances, die am zweiten Tag des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel Deutschlandpremiere feierten.

Der in Gent lebende südkoreanische Theatermacher Jaha Koo bekocht in „Haribo Kimchi“ in einem mobilen Straßenimbiss, in Südkorea Pojangmacha genannt, zwei Besucherinnen auf harten Plastiksitzen. Bald erweitern von ihm kunstvoll angefertige Videos das gastronomische Bühnengeschehen.

Sommerfestival: Auf Kampnagel wird gekocht und die Vergangenheit bewältigt

Sie handeln von einem Leben im Dazwischen, und zwar von Jaha Koos Leben. Er wandert aus Südkorea aus, nicht ohne – von der Großmutter dazu genötigt – ein Kilo Kimchi mitzunehmen. Dieser in einem Plastiksack eingeschweißte fermentierte Chinakohl, ein Nationalgericht in Südkorea, platzt auf einem Berliner Balkon und richtet eine Riesensauerei an. Alltägliche Lebenserfahrung führt Koo gekonnt mit einer Erzählung von Identitätssuche und kulturellen Unterschieden zusammen.

Koo zieht nach Brüssel, nimmt eine Schnecke auf, die schon bald von der Videoleinwand zu realistisch bewegtem Mund mit Computerstimme melancholische Lieder von Einsamkeit singt. Später geben auch noch ein Gummibärchen und ein Aal musikalische Kostproben, da ist Jaha Koo in seinem neuen Leben angekommen. Die Erkenntnis, dass man – wie eine Schnecke ihr Haus – sein Heimatgefühl mit sich trägt, egal, wo man sich aufhält, ist tröstlich und eine wunderbare Botschaft, dieses melancholisch-humorvollen Abends.

Sommerfestival
In Jaha Koos Performance „Haribo Kimchi“ wird gekocht. © Bea Borgers | Bea Borgers

Eine ähnliche Sehnsucht ist auch im dokumentarischen Theaterabend „Los Días Afuera / The Days Out There“ der in Berlin lebenden argentinischen Theatermacherin Lola Arias spürbar. Hier sind es ehemalige Gefängnisinsassinnen, die auf der Bühne von den Versuchen berichten, mit dem Leben in Freiheit klarzukommen, eine Arbeit zu finden, einen Sinn und vielleicht auch eine neue Liebe. Hinter ihnen liegt meist eine entbehrungsreiche Kindheit, vielleicht ein Fehltritt als Drogenkurierin.

Die Gesangsnummern schaffen wohltuende Distanz zu den teils erschütternden Erzählungen

Es sind sieben sehr unterschiedliche Protagonistinnen inklusive einer Transfrau und eines Transmannes, von Arías im Frauengefängnis von Buenos Aires entdeckt. Man kann beobachten, wie intensiv und genau die mit dem diesjährigen Ibsen-Preis ausgezeichnete Theatermacherin mit den Amateuren gearbeitet hat. Und wie klug ihre Entscheidung ist, das Ganze in einer überraschenden Form zu erzählen: als Musical.

Die Spielenden erzählen einander ihre Geschichten in einem Auto vor einem Greenscreen sitzend, während per Video graue Vorstadtszenarien vorbeiziehen. Dann wieder halten sie per Zoom Bewerbungsgespräche auf dem multifunktionalen, von Mariana Tirantte erbauten Bühnengestell ab – die natürlich beim Offenbaren der Vorstrafe abrupt enden.

Sommerfestival: Gemeinsame Horror-Abende und fluffige Melodien

Häufig berichten sie aus dem Gefängnisalltag, in dem die Gefangenen alle zwei Stunden geweckt wurden, von gemeinsamen Horrorfilm-Abenden, der Kontaktbörse Knast-Chat und überhaupt der Selbstbehauptung in einer Umgebung, die häufig von Gewalt bestimmt ist.

Dazu singen sie jedoch fluffige, von Multiinstrumentalistin Inés Copertino live begleitete Musicalmelodien, vom mitreißenden Cumbia-Song bis zum dröhnenden Rock einer von zwei der Beteiligten gegründeten Knast-Bands oder auch mal süßlichen Pop über Nächte, die doch einfach zum Tanzen da seien.

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Die Gesangsnummern sind schlüssig mit den Inhalten montiert und schaffen eine wohltuende Distanz zu den teils erschütternden, von Selbstreflexion geprägten Erzählungen – etwa, wenn die Sexarbeiterin und Transfrau erzählt, wie sie ihre Vorderzähne eingebüßt hat. Trotz all der Hindernisse in Freiheit, geben die Spielenden ihrer Wut, ihren Sehnsüchten, aber auch ihrer Lebensfreude einen eindringlichen Ausdruck. Und erringen dabei ein Stück Selbstermächtigung. Auch das kann Theater leisten.

Internationales Sommerfestival Hamburg bis 25.8., Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de