Avignon. Beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel hat das Stück „Los Días Afuera“ Deutschlandpremiere. Es spielen ehemalige Strafgefangene.
Lola Arias, Regisseurin mit Wurzeln im argentinischen Buenos Aires, inszeniert seit 15 Jahren regelmäßig am Berliner Maxim Gorki Theater und ist auf Theaterfestivals begehrt. Ihre neue Produktion „Los Días Afuera/The Days Out There“ erzählt von Menschen im Frauengefängnis von Buenos Aires – als Musical! Sie erlebt ihre Deutschlandpremiere beim Internationalen Sommerfestival Hamburg auf Kampnagel, das an diesem Mittwoch startet. Eine Begegnung mit der Regisseurin im Opernhaus von Avignon, wo die Performance im Juli gefeiert wurde.
Regisseurin Lola Arias auf Kampnagel: Brutaler Gefängnisalltag als Musical
Warum haben Sie das Thema weiblicher Gefängnisinsassen gewählt?
Ich habe das Frauengefängnis Ezeiza in Buenos Aires besucht, um meinen Film „The Theater of War“ vorzuführen. Er hat die Menschen sehr bewegt, und sie wollten gerne selbst künstlerisch tätig werden, ihre Geschichten erzählen. Anlässlich eines Workshops im Jahre 2019 wurde mir klar, dass ich ein Musical machen möchte, das erst ein Film wurde, dann ein Theaterstück. Ich habe mich dazu entschieden, weil Musik ein Werkzeug des Widerstands ist. Im Gefängnis hört man überall Musik. Zwei der Darstellerinnen hatten bereits eine eigene Band. Ich dachte, das könnte ein Weg sein, ihr Talent und ihre Kraft zu zeigen, auch weil Musik etwas Ermächtigendes hat. Musik beschäftigt sich auf sehr romantische Wiese mit marginalisierten Welten.
Wie haben Sie diese Spielerinnen gefunden?
Wir haben entschieden, den Film mit Teilnehmerinnen der Workshops zu drehen. Sie waren alle einfach großartig. Für das Stück musste ich eine Auswahl treffen und wählte jene, die eine künstlerische Entwicklung vorgenommen haben, ein Potenzial zeigten, das mich überzeugt hat.
Lola Arias: Humor verschafft die Möglichkeit, Distanz zu entwickeln
Für diese Form von Dokumentartheater sind Sie ja seit Jahren bekannt. Warum ziehen Sie echte Menschen Schauspielerinnen und Schauspielern vor?
Ich komme von der Fiktion. Ich habe mit Schauspielerinnen und Schauspielern gearbeitet und auch Texte geschrieben, doch dann habe ich mich immer stärker für Forschung interessiert, für Interviews und lange Prozesse, in denen ich ein Thema erkunde. Ich habe mehr Gewinn davon, als in meinem Zimmer zu sitzen und mir die Welt vorzustellen. Ich brauche diese Menschen, um eine Realität zu entwickeln, die ich vorher nicht kannte. Ich kann jetzt nicht mehr mit Spielenden arbeiten, die denselben Hintergrund haben wie ich.
Ist es einfacher, harte Inhalte in Form einer musikalischen Komödie zu erzählen?
Ich glaube, es geht eher um Humor. Er verschafft die Möglichkeit, Distanz zu entwickeln. Es geht darum, anzuerkennen, dass diese Menschen auch über ihr Schicksal lachen können. Nicht nur Opfer sind. In meiner Erfahrung mit Menschen, die sehr traumatische Dinge erlebt haben, Kriegsveteranen, Flüchtlingskinder, Menschen, die im Gefängnis waren, lachen sie häufig über das, was passiert ist, weil es sie sonst zerstören würde. Wir leugnen aber die Schmerzen nicht, die in diesen Geschichten stecken.
Wie haben sich die Proben entwickelt? Die Menschen sind ja die harte Probendisziplin nicht unbedingt gewöhnt?
In den vergangenen fünf Jahren habe ich gesehen, wie sie künstlerisch gewachsen sind. Obwohl es natürlich nicht leicht ist, sich dieser Disziplin zu unterwerfen. Man muss Text lernen, acht Stunden täglich proben. Als sie in den letzten zwei bis drei Jahren aus dem Gefängnis kamen, hatten sie keine wirklich stabile soziale Situation, keine Arbeit. Die Show gibt ihnen die Möglichkeit einer Struktur und einer Gemeinschaft.
Was haben Sie über das Leben im Gefängnis gelernt? Es ist ja ein noch immer eher unbekannter Mikrokosmos.
Ich habe gemerkt, wie wenig wir wissen, wie sehr wir diese Orte der Folter – ich kann sie nicht anders nennen, nach allem, was ich weiß – ignorieren. Das sind Orte, an denen Menschen weggesperrt und entsetzlich behandelt werden. Es sind keine Orte von Rehabilitation. Sie lernen nichts, was sie hinterher gebrauchen können. Sie werden weggesperrt und danach wieder in die Welt geworfen und finden sich nur schwer zurecht. Viele von ihnen gehen zurück ins Gefängnis. Sie wissen nicht, wie man anders lebt nach so vielen Jahren im Gefängnis. Niemand gibt ihnen eine Chance. Es ist ein Kreislauf. Freiheit ist für sie nicht der Anfang von Glück, sondern von einer Herausforderung. Nacho formuliert es an einer Stelle so: Er zählt die Tage, die er draußen ist, nach drei Jahren würde er seinen eigenen Rekord brechen.
Lola Arias: „Das Theaterstück kann ihnen Selbstvertrauen geben“
Im Stück wirken eine Transfrau und ein Transmann mit. Haben Sie die beiden extra gesucht?
Ich habe nicht speziell nach ihnen gesucht, bin jedoch mit der Transrealität im Gefängnis konfrontiert worden. Gerade diese Menschen haben schlechte Chancen, gute Jobs zu bekommen. Das bildet auch die Wirklichkeit ab. Nacho, der Transmann, erzählte, dass es eine Transquote von einem Prozent bei öffentlichen Stellen gab. Die neue Regierung hat all diese Menschen wieder entlassen. Welche Möglichkeiten haben sie jetzt?
Kann Kunst ihnen eine Bedeutung und einen Lebenssinn geben, einen Ort, an dem sie sich aufgehoben fühlen?
Das Theaterstück kann ihnen vor allem Selbstvertrauen geben. Etwas, das sie lange vermisst haben. Sie lernen, dass sie etwas Tolles leisten können.
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Sie werden im Oktober den höchstdotierten Theaterpreis der Welt, den Internationalen Ibsen-Preis (rund 218.000 Euro Preisgeld), erhalten. Wie verändert er Ihre Arbeit?
Seit 15 Jahren arbeite ich in Deutschland, zuletzt vor allem am Berliner Maxim Gorki Theater, also einem Stadttheater. Dieses hier ist jedoch ein freies Projekt, das ich mit einer Förderung realisieren wollte. Ich bekam jedoch eine Absage, als ich nur ein Drittel des Budgets zusammen hatte, und war wirklich verzweifelt. Und dann kam im Januar jemand aus Norwegen vorbei und unterrichtet mich von diesem Preis, von dem ich noch nicht einmal wusste, dass er existiert. Das gab mir Hoffnung und Zuversicht. Wir haben jetzt 22 Koproduzenten, die das Stück nun ermöglichen. Auch das Internationale Sommerfestival in Hamburg.
Lola Arias: „Los Días Afuera/The Days Out There” 8./9.8., 20.30 Uhr, 10.8., 19.30 Uhr, Kampnagel, Filmvorführung: „Reas” 11.8., 20 Uhr, Alabama Kino
Internationales Sommerfestival Hamburg 7.8. bis 25.8., Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de