Hamburg. Kultursenator Brosda wirbt auf Kampnagel für Solidarität und Offenheit. Die neue Tanzproduktion von Avantgarde-Legende Lucinda Childs fasziniert.
Der sturzbachartige Gewitterregen hat am Mittwochabend auch im Festival Avant-Garten Spuren hinterlassen: Kinder springen fröhlich durch gigantische Pfützen zwischen dem Labyrinth aus türkisblauen Laubengängen, das die Gartenkünstler Jascha und Franz zum Start des diesjährigen Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel errichtet haben.
Die Eröffnungsreden müssen ins Innere des Kampnagelgebäudes verlegt werden. Und dann das: „Es regnet hier drinnen“, verkündet Kultursenator Carsten Brosda und verweist auf Wasseransammlungen am Hallenboden. „Ich weiß nicht, ob das schon der Schweiß ist, der von der Decke tropft.“ Der tatsächliche Grund: ein undichtes Dach. Aber weder vom Wasser draußen und drinnen noch von den drückend schwülen Hallentemperaturen lässt sich das Publikum die freudige Erwartung auf die Kunst verderben.
Kampnagel: Gelungene Sommerfestival-Eröffnung trotz Wasserschaden
Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard beschreibt die „dystopischen Zeiten“ mit Klimawandel, Konflikten und Kriegen und ihre Auswirkungen auf den Kunstbetrieb. Es brauche mehr denn je „multiple Sichtweisen auf die Krisen dieser Zeit“, in Diskussionen, die „freundschaftlich“ geführt werden. Der Kultursenator greift zum Thema eine Äußerung von Festivalleiter András Siebold aus dem Editorial des Programmheftes auf („Habt euch einfach etwas lieb, bevor ihr euch streitet“) und zitiert den Soziologen Niklas Luhmann: „Liebe ist nicht nur eine Anomalie, sondern eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit.“
Es gelte auszuhalten, dass Begegnungen unerwartet verlaufen und nicht so, wie man sich das vorstelle. Wichtig sei, dass man sich eben trotzdem für den Austausch entscheide. Ein Regelwerk vorab komme einem „Verzicht auf Freiheit“ gleich, so Brosda, der diese Sätze unter starkem Applaus auf die aktuelle Debatte um Kunstfreiheit bezieht, Solidarität und Offenheit der Gesellschaft beschwört. Es gelte, die Unsicherheit auszuhalten und nicht zu verlangen, dass eine Kulturbehörde normiere, was aushaltbar sei und was nicht.
Für die Eröffnungsproduktion ist die große alte Dame des Avantgarde-Tanzes verantwortlich
Gut auszuhalten ist auf jeden Fall die Eröffnungsproduktion der großen alten Dame des US-Avantgarde-Tanzes: Lucinda Childs präsentiert mit ihrer Dance Company die Weltpremiere von „Four New Works“. 84 Jahre ist die Choreografenlegende alt, ihre Wurzeln liegen im legendären New Yorker Judson Dance Theater der 1960er-Jahre, später arbeitete sie mit Robert Wilson, John Cage und Philip Glass zusammen.
Eine Fortschreibung der Avantgarde ist das erste Duett „Actus“ noch nicht, eher eine Fingerübung. Man sieht zu den Klängen von Bachs „Actus Tragicus“ viele gestreckte Arme und Beine, Drehungen der Körper. Das ist von den beiden Tänzerinnen akkurat getanzt und sehr pur, erinnert aber doch eher an eine Aufwärmübung im Ballett.
Auch zu Bildern eines Footballspiels aus den 1960er-Jahren wird getanzt
Doch dann wird es mutiger. In „Geranium“ blickt man zunächst auf die multimediale Arbeit „For Geranium“ (2024) des bildenden Künstlers Anri Sala. Schemenhaft sind mal scharf, mal in irritierender Unschärfe Szenen eines NFL-Championship-Spiels zwischen den Cleveland Browns und den Baltimore Colts aus dem Jahre 1964 auf eine Steinwand gebannt. Von links schält sich Lucinda Childs aus dem Vorhang, bewegt sich im grauen Arbeitsoverall langsam schreitend und sich dabei drehend auf die Bühnenmitte zu, während sie ein straffes Seil hinter sich herzieht. Ihre Bewegungen greifen dabei subtil das schemenhafte Spiel aus dem Video auf. Ein berückendes Kunstwerk, introspektiv, irgendwie auch spröde und doch faszinierend.
Richtig zu Hochform läuft der Abend nach der Pause auf. Zu ekstatischen Violin-Klängen der gefragten isländischen Cellistin und Avantgarde-Komponisten Hildur Guðnadóttir (u. a. Oscar für die „Joker“-Filmmusik) bewegen sich sieben Tänzerinnen und Tänzer in „Timeline“ vor einer violetten Leinwand. Führen immer wieder dieselben Figuren mal im Duett, mal im Trio aus: Drehungen, gestreckte Arme, Wiege- und Ausfallschritte, Sprünge. Die scheinbare Monotonie der Wiederholung erzeugt einen formalen Sog, eine mitreisende Dynamik und ein Tableau von purer Schönheit.
Die Choreografie „Distant Figure“ ist ein Wunder an Bewegung
Die steigert sich noch einmal im letzten Stück, zu dem der Pianist Anton Batagov am Flügel Platz nimmt. Wellenartig brandet die Klaviermusik „Distant Figure (Passacaglia for Solo Piano)“ von Philip Glass auf und ab. Miniaturen weiten sich zu ekstatischen Melodie-Bögen und ebben wieder ab. Der große Minimal-Komponist hat diese Klänge extra für Lucinda Childs verfasst, und sie macht daraus in der gleichnamigen Choreografie ein Wunder an Bewegung, lässt die sechs Tanzenden vor einem nun blau gefärbten Hintergrund vor und zurück schweben und mit gestreckten Armen kreisen, bald fröhlich springend sich in feiner, aber keineswegs nüchterner Geometrie den Raum erobern. Die Pionierin des modernen Tanzes liefert damit ein in sich stimmiges Werk ab, das gleichermaßen klassisch wie zeitgenössisch wirkt.
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Solchermaßen inspiriert, gleitet man – im endlich trockenen Avant-Garten kurz durchgelüftet – in den Club, wo das kanadische Trio Timber Timbre seinen düster-experimentellen Folk verbreitet. Gitarrist und Sänger Taylor Kirk legt seine melancholische Poesie über klirrende Piano-Klänge und dekonstruierte Vintage-Synthesizer, während er mit gleicher Inbrunst von der Liebe zu Süßigkeiten („Sugar Land“) wie von einer Internet-Gesellschaft am Abgrund („Ask the Community“) singt. So kann es weitergehen bei diesem Sommerfestival.
Internationales Sommerfestival Hamburg bis 25.8., Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de