Hamburg. Ätzende Eltern in der WhatsApp-Gruppe und ein Trauma aus der eigenen Kindheit: Dieser Roman lässt niemanden kalt. Ist er auch gelungen?

Das Blitzen in den Augen des Jungen, schimmert da eine Form von Triumph? Luca hat eine Blindschleiche aufgespießt. Nicht absichtlich, sagt er. Seine Mutter Pia ist aber neuerdings von einem Grundzweifel befallen. Sie misstraut dem Siebenjährigen. Sicher eine emotional belastende und sehr komplizierte Situation für sie. Und auch für ihren Partner. Jessica Linds neuer Roman heißt „Kleine Monster“ und ist unbedingt, jedoch nicht ausschließlich ein Buch für Eltern. Es geht um Vertrauen und Verlust, also allgemeine Themen, die etwas darüber verraten, wie Menschen beschaffen sind; mit ihren psychischen Verfassungen und Manövern.

Traumata bleiben an einem haften, das lernt die von der Autorin Lind (ihr erster, dezent gruseliger Roman hieß „Mama“), Jahrgang 1988, als Ich-Erzählerin installierte Problemmutter Pia nachdrücklich in dieser Geschichte, die tatsächlich nichts für schwache Nerven ist. Bei der in St. Pölten lebenden Frau, die wie ihrer Erfinderin Österreicherin ist, ist es der lange zurückliegende Tod der Schwester, der ihr Denken und Fühlen von einem Augenblick auf den anderen wieder bestimmt. Linda wurde nur vier Jahre alt, und als sie dramatisch aus dem Leben Pias verschwand, war dies gleichzeitig der Anfang von Ende von Pias Beziehung zur ihrer zweiten Schwester Romi. Diese war dabei, als Linda starb. Machte die Familie das Mädchen damals verantwortlich für den Tod? Tut sie es heute nicht? Hat Pia ihrer Schwester Romi nie beigestanden?

Neues Buch „Kleine Monster“: Versammelte Elternschaft bei WhatsApp

Argwohn denen gegenüber, die Pia am nächsten sind, ist das, was die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. In Letzterer ist es ihr einziges Kind Luca, dessen kleine, rätselhafte (er spricht nicht über das Geschehen) Affäre sie triggert und tief in sie gesunkene Konflikte an die Oberfläche holt, was sie einem hochtourigen Stresstest aussetzt. Luca und Alena, seine Mitschülerin, waren allein im Klassenraum, es kam zu einem physischen Vorfall – mit Luca als angeblichem Täter. Das, was sich danach abspielt, ist eine herausragend unangenehme Erfahrung, die eine Form von Paranoia bei der Erzählerin hervorruft. Es ist die Angst, nicht genug über das eigene Kind zu wissen. Und die gleichzeitige Sorge, von der Peergroup an den Pranger gestellt zu werden.

Buchcover Kleine Monster
Das Buchcover von Jessica Linds „Kleine Monster“, erschienen bei Hanser Berlin, 256 S., 24 Euro © Hanser Berlin | Hanser Berlin

Die in diesem Fall die, natürlich, in einer WhatsApp-Gruppe versammelte Elternschaft ist. Unter Ausschluss von Pia und Jakob, dem Vater von Luca, verhandelt jene den Fall Luca/Alena. Kopfkino und das Drama des Ausgeschlossenseins, Verdächtigungen, die am eigenen Kind zweifeln lassen: Wie Jessica Lind die den Alltag erschütternde Beunruhigung in Szene setzt, verrät ihr großes Erzähltalent. Und dennoch gerät man als Leser in ein Plausibilitätsdilemma: Man kann sich propellernde, aufgeregte Eltern, die Schutzwälle für ihre Kinder hochfahren, gut vorstellen.

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Jessica Lind wurde 1988 in St. Pölten geboren. © imago/gezett | imago stock&people

Was man sich in einer doch heutzutage zumindest in bestimmten Gesellschaftsschichten üblichen „Lasst uns da jetzt alle mal offen drüber reden“-Vernünftigkeit eher nicht vorstellen kann, ist, dass vorher geschätzte Mitglieder einer Eltern-WhatsApp-Gruppe einfach so eiskalt entfernt werden, wie es in diesem Roman geschieht.

„Kleine Monster“ von Jessica Lind: Ein nie überwundener Verlust

Überhaupt erscheint in „Kleine Monster“ manches konstruiert, aber, und das ist die gute Nachricht, was dieses intensive Buch angeht: Der Plot ächzt dennoch nicht unter der Schwere der Verwicklungen und Projektionen, der Analogien und Vererbungen, die Lind in diesem dunklen Familienroman über einen nie überwundenen Verlust erfolgreich behauptet.

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Im Verlaufe der Handlung gerät Luca, dessen kindliche Seele sich den Leserinnen und Lesern immer nur in der Außensicht Pias zeigt, zunächst in den Hintergrund. Erzählt wird im üppigsten Teil des Romans, der dem fulminanten Prolog folgt, hauptsächlich von einer von Verboten und Strenge gekennzeichneten Kindheit dreier Schwestern, die auch, weil eine von ihnen adoptiert ist, eine besondere ist. Wie die Dämonen der eigenen Herkunft dann eine Frau anfällig für ihr Urteilsvermögen in der Gegenwart machen, wird auf manche Weise deutlich.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, das eine schöne, behütete Kindheit ein Glück ist. Und das nicht jedes „kleine Monster“ tatsächlich eines ist.

Jessica Lind stellt ihren Roman „Kleine Monster“ am 16. September auf der Herbstlese Blankenese in der Buchhandlung Wassermann vor. Infos zum Festival unter www.wassermann-buecher.de