Hamburg. Mit einem Stück von ihm wurde die Elbphilharmonie eröffnet, sein Oeuvre hat Musikgeschichte geschrieben. Auch und besonders in Hamburg.
Es war absehbar. Aber das war es schon so lange, dass die Nachricht dann doch ein Schock ist: Wolfgang Rihm, einer der bedeutendsten und meistgespielten deutschen Komponisten der Gegenwart, ist in der Nacht zum Sonnabend gestorben. Seit mehr als 20 Jahren kämpfte er gegen seine Krebserkrankung, kehrte aber zwischen Operationen und Chemotherapien immer wieder zurück ins Leben. Und ins Musikleben.
Wolfgang Rihm gestorben: Mit seiner Musik wurde die Elbphilharmonie eröffnet
Wer einmal erlebt hat, wie er sich nach der Aufführung eines seiner Stücke eher widerstrebend erhob und verbeugte, wird die Präsenz dieses Mannes nicht vergessen: groß, der massige Kopf umgeben von einem Lockenkranz, eine irgendwie barocke Figur. Rihm war eben Badener. Geboren 1952 in Karlsruhe, hat er aus seiner topografischen Verwurzelung nie einen Hehl gemacht, mitsamt der Neigung zu leiblichen Genüssen. In Karlsruhe war er fast 40 Jahre lang Kompositionsprofessor, in dem Nachbarstädtchen Ettlingen ist er gestorben.
Auch in der Hamburger Musikgeschichte hat Rihm Spuren hinterlassen: Im Januar 2017 spielte das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Leitung seines Chefdirigenten Thomas Hengelbrock im Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie sein kurzes Auftragswerk „Reminiszenz / Triptychon und Spruch in memoriam Hans Henny Jahnn“ – Radio, Fernsehen, Livestream, Rede des Bundespräsidenten, alles dabei.
Wolfgang Rihm: Sein Oeuvre ist unüberschaubar riesig
Musikalisch gewichtiger waren die Uraufführungen an der Staatsoper: 1979 kam in der Opera stabile die Kammeroper „Jakob Lenz“ nach der Erzählung „Lenz“ von Georg Bücher heraus; 1992 hob Ingo Metzmacher, damals noch nicht GMD des Hauses, Rihms vieraktiges Musiktheater (nicht: Oper!) „Die Eroberung von Mexico“ aus der Taufe. Das Stück hat es, bei zeitgenössischen Werken eine Erwähnung wert, ins Repertoire der deutschen Opernhäuser geschafft.
„Rihm. Der Repräsentative“ hat der Musikpublizist Frieder Reininghaus seine Schrift über den Komponisten genannt. Wenn es in einer Demokratie so etwas wie einen Staatskomponisten geben kann, dann hat Rihm dieses inoffizielle Amt bekleidet, und zwar über Jahrzehnte. Sein Verlag, die Universal Edition, ruft ihm nach, mit ihm verliere „die gesamte zeitgenössische Musikwelt eine wichtige Schlüsselfigur.“ Sein schier unüberschaubares Oeuvre steht landauf, landab auf den Konzertprogrammen. Er hat opulente Bühnenwerke geschaffen, Sinfonien, das Violinkonzert „Gesungene Zeit“ für die Geigerin Anne-Sophie Mutter, delikateste Kammermusik. Und all das in atemberaubendem Tempo, das der Qualität seiner Arbeit wundersamerweise nichts anhaben konnte.
Seinen Durchbruch hatte er 1974 bei den Donaueschinger Musiktagen – mit 22 Jahren
Mit elf Jahren hat er angefangen, Musik zu schreiben. Noch als Schüler nahm er ein Kompositionsstudium an der Karlsruher Hochschule für Musik auf, wo er sich mit Schönberg und Webern befasste, den wegweisenden Neutönern des frühen 20. Jahrhunderts. Er studierte in Köln bei Karlheinz Stockhausen (der ihn allerdings nicht ernstgenommen haben soll) und in Freiburg bei Klaus Huber. Vor allem aber traute er seiner inneren Stimme. Seinen Durchbruch hatte er 1974 mit der Uraufführung seines Orchesterstücks „Morphonie – Sektor IV“ bei den Donaueschinger Musiktagen, Mekka und Höhle des Löwen der zeitgenössischen Musik. Da war er 22 Jahre alt.
Ums Verstandenwerden ging es Rihm nicht. „Erklärung ist (mir) unmöglich“, teilte er zu seinem über Jahre gewachsenen Orchesterstück „Jagden und Formen“ mit. Und stellte mit „Die Hamletmaschine“ nach dem gleichnamigen Theaterstück von Heiner Müller die Strukturen der überbrachten Literaturoper infrage.
Wolfgang Rihm drängte sich nie in die Öffentlichkeit
Seine Tonsprache ist nicht festzulegen auf einen bestimmten Stil oder – wie etwa die seiner Kollegen Philip Glass oder Arvo Pärt – auf einen bestimmten Klang. Was seine Werke über die unterschiedlichen Schaffensperioden hinweg kennzeichnet, ist zum einen die Nähe zum Wort, zur Literatur, und zum anderen ihre Expressivität. Eine Eigenschaft, die von der tonangebenden Avantgarde der Nachkriegszeit gemeinhin eher skeptisch beäugt wurde. Womöglich war es gerade sie, die ihn für das große Publikum anschlussfähig gemacht hat.
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In die Öffentlichkeit hat sich Rihm nie gedrängt. Ihm war es Luxus und Inspiration zugleich, in Ruhe gelassen zu werden. Seine Interviews gab er schon mal per Fax, und das mit einem deutlichen, humorvollen Hang zum analogen Leben. Sogar das Wort Sex durfte vorkommen. 2019 hat er sich in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk anlässlich der Verleihung des Deutschen Musikautorenpreises für sein Lebenswerk mokiert: „Bei dem Begriff ,Lebenswerk‘ erschrickt man zunächst als Betroffener. Weil man denkt: Aha, schon vorbei.“
Nun ist es die Nachwelt, die erschrickt. Ihr bleibt Rihms Oeuvre von rund 500 Kompositionen.