Hamburg. An der Harvestehuder Ida-Ehre-Schule wird nun auch Rhythmus, Rap und Selbstbewusstsein unterrichtet – unter prominenter Patenschaft.

„Merkt ihr, ihr seid alle noch etwas zögerlich“, tönt es mit dunkler warmer Stimme durch das Klassenzimmer. Wer da durch die Tischgruppen läuft, ist kein Lehrer im klassischen Sinne, sondern der Hamburger Rapper Redchild. Sneaker und Jogginghose, lässige Jacke und wacher Blick.

An diesem Nachmittag steht in der 9g der Ida-Ehre-Schule weder Deutsch noch Kunst noch Geschichte auf dem Stundenplan, sondern Hip-Hop. Und doch drängt sich nach einer Stunde das starke Gefühl auf, dass die 15 Schülerinnen und Schüler direkt mehrere Fächer auf einmal lernen. Und, natürlich: fürs Leben.

Statt bloßer Schulbankdrückerei geht es womöglich auch ein wenig um die viel zitierte Street Credibility, um den Respekt auf der Straße. Vor allem aber soll das Selbstbewusstsein befeuert werden, die eigenen Stärken und „Skills“. So hat es sich der echte Lehrer Michael Kröger ausgedacht: Der Pädagoge, studiert in Deutsch und Geschichte, hat vor knapp zwei Jahren Deutschlands erste Hip-Hop-Klasse an der Ida-Ehre-Schule gegründet.

Ida-Ehre-Schule: „Hamilton“-Rapper Redchild gibt Unterricht

Wer bin ich? Und was kann ich? Das sind die zentralen Fragen, die bei seinem popkulturell geprägten Unterricht vier Stunden pro Woche auf dem Lehrplan stehen. „Im Schulwesen wird häufig der Rotstift eingesetzt. In der Hip-Hop-Klasse geht es aber viel mehr um den Grünstift“, sagt Kröger. Das heißt: Die vier Elemente des Hip-Hop – Rap, DJing, Breakdance und Graffiti – nutzt er als Vehikel, um die Talente und Leidenschaften der Jugendlichen zu fördern. Und um sie in Kontakt zu bringen mit vielfältigen Lebensgeschichten, Berufswegen und Vorbildern. So wie mit Redchild.

Lehrer Michael Kröger unterrichtet die Hip-Hop-Klasse.
Lehrer Michael Kröger unterrichtet die Hip-Hop-Klasse. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Der Rapper, Musiker und Produzent ist derzeit im Operettenhaus zu erleben – in einer Doppelrolle im Musical „Hamilton‟, das die Stage Entertainment vom Broadway nach Hamburg geholt hat. Und einen Tag, nachdem sich die Jugendlichen das US-Gründerzeit-Stück auf St. Pauli angeschaut haben, verwandelt Redchild das Klassenzimmer in eine Taverne im New York des Jahres 1776. Ein paar verrückte Tische und Stühle. Und vor allem viele Fragen, die die Vorstellungskraft anregen: Wer seid ihr? Warum seid ihr hier? Worüber sprecht ihr? Was trinkt ihr?

Hip-Hop an der Schule: Atmen und im Augenblick sein

„Ihr seid Schauspieler, ihr müsst es fühlen“, erläutert Redchild. Und damit das auch funktioniert mit dem Fühlen, tappen Redchild und die Jugendlichen im Takt auf ihre Herzen. Atmen, einen gemeinsamen Rhythmus finden, im Augenblick sein.

„Too cool for school“ ist hier niemand. Wichtig ist, sich einzubringen. Kjell und Emil, beide 15, verkörpern in der Mitte der Klassenzimmer-Taverne, wie sich der Aufklärer Lafayette und der spätere Gründervater Hamilton begegnen. „Ein Schuss“ heißt die Musical-Nummer, die davon handelt, seine Chance zu ergreifen. Und dazu ermuntert auch Redchild die Klasse bei jedem neuen Durchgang des Songs.

Rap an der Ida-Ehre-Schule: „Sehr, sehr nice, gebt euch selbst mal einen Applaus“

„Steht für den Ton ein, egal, was dabei herauskommt. Es gibt keine Erwartungshaltung.“ Redchild motiviert die Gruppe, fragt aber auch immer wieder nach, wie die Jugendlichen ihre Performance wahrnehmen. Und tatsächlich: Nach anfangs leicht nuscheliger Zurückhaltung werden Sprechgesang und Ausdruckskraft immer impulsiver, raumgreifender, bewegender. „Sehr, sehr nice, gebt euch selbst mal einen Applaus“, sagt Redchild. Klatschen, jubeln, strahlen. Und am Ende des Workshops legt das rappende Klassenzimmer schließlich ganz befreit los. Eine Verbindung ist zu spüren, alle agieren miteinander.

Selbstbewusstsein durch Sprechgesang: Rapper Redchild bei seiner Unterrichtseinheit an der Ida-Ehre-Schule.
Selbstbewusstsein durch Sprechgesang: Rapper Redchild bei seiner Unterrichtseinheit an der Ida-Ehre-Schule. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

„Ihr wart gerade nicht in der Schule, sondern wirklich im New York 1776, oder?“, fragt Redchild sichtlich erfreut. Für den Rapper bedeutet Schauspiel, absolut im Moment zu sein. „In solch einem Zustand könnt ihr viel besser Entscheidungen treffen als so hektisch nebenbei, sei es auf der Bühne oder im Leben.“ Schnell und energiegeladen, klar und empathisch spricht er mit den Schülerinnen und Schülern. Und seine Botschaften kommen an.

Legendärer Rapper Torch ist Pate der Hip-Hop-Klasse

„Hip-Hop ist viel mehr als das Klischee von Autos und Drogen“, sagt Kjell. „Wir lernen so auch, insgesamt mit weniger Klischees im Kopf durchs Leben zu gehen.“ Auch die 16-jährige Rojin ist nachhaltig begeistert: „So einen Zusammenhalt wie in der Hip-Hop-Klasse habe ich bisher noch nicht gekannt.“ Mitschüler Emil stimmt ihr zu: „Das ist die beste Entscheidung meiner Schullaufbahn. Ich habe gelernt, mich viel besser auszudrücken.“

Niemand Geringeres als Torch von der wegweisenden Heidelberger Rap-Crew Advanced Chemistry ist Pate des Hamburger Projekts. Die Hip-Hop-Kultur in der Neckar-Stadt wurde just im Frühling dieses Jahres von der deutschen Unesco-Kommission in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Eine gute Zeit also, um das stilprägende wie lebensnahe Genre ins Curriculum aufzunehmen. Und zwar in all seinen Facetten.

Hip-Hop-Klasse erschafft ein „Hamilton“-Graffito

Während sich der Großteil der Hip-Hop-Klasse sprechsingend und schauspielend ausleben konnte, haben weitere Jugendliche auf einer Wand auf dem Schulhof ein „Hamilton“-Graffito erschaffen. Unter Anleitung des Künstlers Benjamin Auch ist ein dynamischer Schriftzug vor Hamburg-Kulisse entstanden.

Wichtiger Bestandteil der Hip-Hop-Kultur: Die Schülerinnen und Schüler der 9g bei der Erstellung des „Hamilton“-Graffitos.
Wichtiger Bestandteil der Hip-Hop-Kultur: Die Schülerinnen und Schüler der 9g bei der Erstellung des „Hamilton“-Graffitos. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

„Eigentlich habe ich nur hier und da ein paar Hinweise gegeben“, sagt der Graffiti-Artist. Denn im Fokus steht das Prinzip „each one teach one“, das gegenseitige Erklären und Beibringen, also letztlich die Eigeninitiative der Schülerinnen und Schüler. Und dieser Einsatz wird dann sogar benotet. Durchgefallen in Hip-Hop ist an der Ida-Ehre-Schule aber bisher niemand.