Hamburg. Fünf Stunden Gala bewiesen erneut, wie erstklassig das Hamburger Corps de Ballett ist. Die jüngste Arbeit war noch unbekannt.

John Neumeier ist ein vorbildlicher Gastgeber. Und ein vorbildlicher Gastgeber traktiert seine Gäste nicht mit Schwermut, ein vorbildlicher Gastgeber bleibt positiv. Weswegen der Hamburger Ballett-Intendant die diesjährige Nijinsky-Gala, den traditionellen Höhepunkt der Hamburger Ballett-Tage, nicht etwa unter ein Motto wie „Ballett im Krieg“ oder „Tanz in der Pandemie“ stellte oder gar an das bevorstehende Ende seiner Intendanz im Sommer 2023 erinnerte, nein: „Anniversaries“ war das Programm in der Staatsoper überschrieben, „Jubiläen“. Und so etwas ist ein Grund, zu feiern.

Hamburg Ballett: Neumeiers künstlerische Sprache ist vielschichtig

14 Stücke beinhaltete der rund fünfstündige Abend, mehrheitlich Neumeier-Choreografien, und (fast) alle waren mit einem Jubiläum verbunden: ein Pas de deux aus „A Cinderella Story“, vor 30 Jahren erarbeitet und mittlerweile getanzt von Madoka Sugai und Alessandro Frola als sanfte Annäherung zweier junger Menschen. Das stark von homerotischer Motivik durchzogene „Nijinsky“, 150 Jahre nach der Geburt von Sergei Djagilew, dem Begründer der Ballets Russes und Entdecker Vaslaw Nijinskys, in zwei Szenen mit Aleix Martinez und Alexandre Riabko in der Titelrolle.

Der 4. Satz aus der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler, zu einer vor 50 Jahren entstandenen Choreografie anlässlich des Todes von Neumeiers frühem Förderer John Cranko. Außerdem: die Eröffnung mit „Opus 67“ (Choreografie: Raymond Hilbert) vom Bundesjugendballett, das sich längst zur eigenständigen Compagnie auf höchstem Niveau gemausert hat. Und das dieses Jahr seinen zehnten Geburtstag feiert, auch ein Jubiläum!

Was an diesem klug kuratierten, vom Philharmonischen Staatsorchester unter Nathan Brock sensibel begleiteten Abend deutlich wurde: wie vielstimmig Neumeiers künstlerische Sprache ist! Wie unterschiedlich er immer wieder choreografiert, von Klassik („Der Nussknacker“ als „vergessenes“ Jubiläum – die Choreografie ist 51 Jahre alt) über abstrakte Formen („Ghost Light“) bis zu knallhart Zeitgenössischem. Und: was für tolle Tänzer und Tänzerinnen er an seine Compagnie zu binden weiß! Dass die großen Stars, Ida Preatorius, Edvin Revazov, Alexandr Trusch oder Anna Laudere am Sonntag auf der Bühne standen, versteht sich von selbst, aber praktisch das gesamte Corps de Ballett ist erstklassig.

Hamburg Ballett: Auch der Nachwuchs beweist sich

Und mit „Gopak“, choreografiert von Konstantin Tselikov, bewies auch der Nachwuchs der Ballettschule, dass da noch einiges nachkommen dürfte. Zumal der Abend hier auch politisch wurde: „Gopak“ basiert auf ukrainischer Folklore und wurde so zum Statement gegen den russischen Angriffskrieg. Neumeier, sichtlich bewegt: „Wir beten alle, dass dieser ungerechte, schreckliche Krieg bald ein Ende hat.“

Sicher: Wer sich ein bisschen mit Neumeiers Arbeit auskennt, für den boten die meisten Arbeiten wenig Überraschungen, im Gegensatz zu manchen neuen Besetzungen. Interessant aber die Gastspiele: „3 Gnossiennes“ von Het Nationale Ballet Amsterdam, eine Choreografie von Hans van Manen, der am 11. Juli seinen 90. Geburtstag feiert. Oft werden Neumeier und van Manen in einem Atemzug genannt, hier wurde aber deutlich, dass der Niederländer viel abstrakter, stilisierter arbeitet als der Wahl-Hamburger. Zumal hier die ehemalige Bolschoj-Primaballerina Olga Smirnova tanzte, die gleich zu Kriegsbeginn aus Moskau geflüchtet war – was schon ein kleines politisches Statement ist.

Oder „Carousel“ vom Royal Ballet London, ein Tanzstück nach Ferenc Molnárs Schauspiel „Liliom“ (das auch in einer Neumeier-Version existiert), choreografiert von Kenneth MacMillan, der vor 30 Jahren gestorben ist, getanzt von einer reizenden Mayara Magri und einem vielleicht ein bisschen zu kernigen Matthew Ball.

John Neumeier behandelte das Thema "Melancholie"

Auch die jüngste Neumeier-Arbeit war in Hamburg noch unbekannt: „from time to time“, ein Stück, das er fürs Ballett am Rhein als Teil eines vierteiligen Abends erarbeitete. Der Düsseldorfer Intendant Demis Volpi hatte im Juni sehr unterschiedliche Choreografen gebeten, Georges Balanchines „Die vier Temperamente“ neu zu interpretieren, und Neumeier behandelte das Thema „Melancholie“.

Zu Franz Schuberts (vor 225 Jahren geboren!) Klaviersonate B-Dur bewies er in rund 30 Minuten, dass er es sich nicht in der Neoklassik bequem gemacht hat, sondern dass er auch eine sehr heutige Ästhetik beherrscht, mit einem hochkreativen Wechsel zwischen Film (Kiran West) und Tanz. Und dass das Ballett-am-Rhein-Ensemble technisch nicht immer ganz mit den Hamburger Tänzern mithalten konnte, schmälerte die Qualität des Beitrags kaum.

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Mit „from time to time“ gab Neumeier einen Hinweis auf sein Verständnis von Melancholie: Der 83-Jährige ist ein heiterer Melancholiker. Und heiter ging die Nijinsky-Gala zu Ende, mit zwei Szenen aus dem gerade mal ein Jahr alten „Beethoven-Projekt II“, die das zeigten, was man eigentlich an Neumeier schätzt und an diesem von kleineren Formaten geprägten Abend eher selten sah: kunstvoll arrangierte Massenchoreografien.

Hamburg Ballett: Neumeier ist ein vorbildlicher Gastgeber

Und etwas, das in der Neoklassik nicht immer im Vordergrund steht: Humor. Aber Neumeier beschrieb zuvor, dass der Optimismus von Beethovens Musik ihn durch den Corona-Lockdown gebracht habe, weswegen er mit dem Gala-Finale auch einen optimistischen Ausblick in eine bessere Welt inszenieren wollte, trotz Pandemie, trotz Krieg.

Zu „Beethoven-Projekt“ gab es übrigens kein Jubiläum. Egal. John Neumeier ist ein vorbildlicher Gastgeber, und ein vorbildlicher Gastgeber weiß auch, wann es Zeit ist, mal Fünfe gerade sein zu lassen.