Hamburg. Dem New Yorker Komponisten und Saxofonisten John Zorn widmete das Konzerthaus in Hamburg ein viertägiges Festival. Die Hintergründe.
Wenn er acht Stunden lang Saxofon übe, dann habe er ein schlechtes Gewissen wegen der drei Stunden, die er davon für das Atmen verschwenden müsse, sagt John Zorn beim öffentlichen Künstlergespräch in der Elbphilharmonie. Und auch wenn das nicht ganz ernst gemeint ist, lässt es doch tief in die Gedankenwelt eines Mannes blicken, für den die Bezeichnung „Ausnahmeerscheinung“ eher noch untertrieben ist – beeindruckend illustriert durch das viertägige, dem 68-jährigen Amerikaner gewidmete Hamburger „Reflektor“-Festival.
Gibt es überhaupt irgendetwas, was dieser Mann als Komponist nicht kann? Vielleicht, aber es ist schwer zu finden unter all den Meisterwerken verschiedener Genres, die er seit fast fünf Jahrzehnten unablässig abliefert und die sich auf Hunderten CDs wiederfinden. In der Elbphilharmonie muss wegen eines positiven Corona-Tests bei zwei Musikern das Programm kurzfristig umgestellt werden, doch auch das ist für Zorn kein wirkliches Problem: Dann eben am Eröffnungstag Solopiano (Brian Marsella) und ein filigranes Gitarrenduo (Julian Lage und Gyan Riley) statt einer extremen Jazzmetal-Attacke des Projekts Simulacrum.
Konzertkritik: Fans aus ganz Europa angereist
Danach im Großen Saal das Masada Quartet und New Masada Quartet, Jazz mit jüdisch-orientalischen Einflüssen, der improvisiert erscheint, von Zorn (am Saxofon) aber in klar strukturierte Bahnen gelenkt wird. Riesiger Jubel der Fangemeinde, die für diese vier Tage aus ganz Europa angereist ist und nebenbei schon die nächsten Trips in Sachen Zorn plant (2023 wird er 70, dann spielt er womöglich einen Monat in New York. „Ich spare schon ...“).
Was allen hier gemeinsam ist: die uneingeschränkte Offenheit gegenüber sämtlichen musikalischen Ausdrucksformen. Mag der eine auch vom Jazz und die andere vom Metal zu John Zorn gekommen sein, mag es individuelle Vorlieben für Kammermusik oder Surfpop geben: Am Ende ist all das nur der Ausgangspunkt für ein Abenteuer, das zu immer neuen, unbekannten Ufern führt.
Stephen Gosling spielte „Turner Études“
So auch am Freitag, als Pianist Stephen Gosling zunächst im Kleinen Saal Zorns strenge „Turner Études“ spielt, die hohe Konzentration erfordern. Danach dann im Großen Saal spirituelle Vokalmusik, die an die Werke Hildegard von Bingens erinnert und von einem weiblichen Quintett gesungen wird, das nicht nur sehr individuelle Stimmfarben aufweist, sondern auch mit lautmalerischen Effekten fesselt. Nach einem Gitarrentrio dann zum Abschluss Sängerin Petra Haden mit von Zorn komponierten Liedern, die sich zwischen Folkpop und Americana bewegen aber auch Jazzanklänge haben und bei denen stets eine undefinierbare, leicht irritierende Unterströmung zu spüren ist – ohne Weiteres als Soundtrack für einen Film von David Lynch („Mulholland Drive“) denkbar.
Es gibt für das Publikum nur wenige Pausen zwischen den Konzerten, aber auch die Musikerinnen und Musiker nehmen sich in diesen Tagen keine Auszeit. Gitarrist Julian Lage hat am Sonnabend spielfrei – und sitzt voller Vorfreude im „Heaven And Earth Magick“-Konzert (eine Mischung aus freier Improvisation und notiertem Material). Ebenso wie Sopranistin Barbara Hannigan und ihr Freund, der Schauspieler und Regisseur Mathieu Amalric (007-Gegenspieler in „Ein Quantum Trost“).
John Zorn hat eine Familie geschaffen
Dies hier ist für niemanden einfach nur ein Job, für den man einfliegt, bezahlt wird und dann wieder ausfliegt. John Zorn hat eine künstlerische Familie geschaffen, eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich als lebendiges Werkzeug versteht, das seine musikalischen Ideen in die Welt bringt.
Dass nicht jede dieser Ideen trägt, zeigt sein Soloauftritt an der Elbphilharmonie-Orgel, der strukturlos und uninspiriert wirkt. Aber das ist die Ausnahme an diesen vier spektakulären Tagen, die einen Mann in den Vordergrund stellen, der seit fast 50 Jahren in derselben kleinen Wohnung im East Village lebt, die gleiche Kleidung (Camouflagehose und T-Shirt) trägt, weder fernsieht noch Zeitung liest, nahezu keine Interviews gibt und zwar viele Künstlerfreunde, aber keine eigene Familie hat.
Konzertkritik: „Reflektor“-Festival ein voller Erfolg
Sein Credo sei es, sich nicht vom Wesentlichen (der Kunst) ablenken zu lassen und alles sofort zu erledigen, hatte der Workaholic im Gespräch mit Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter gesagt: „Es sollte niemals eine Liste mit Dingen, die noch zu tun sind, auf deinem Schreibtisch liegen.“ Seine Aufgabe sei es zudem nicht, es jemandem leicht zu machen. Weder dem Publikum, das bisweilen tatsächlich ordentlich gefordert wird, noch den Musikerinnen und Musikern, etwa wenn sie am Sonnabend beim „Cobra“-Projekt zu zehnt spontan auf Zorns Spielanweisungen per Pappschild reagieren und natürlich auch interagieren müssen.
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Doch ein Blick in die Gesichter zeigt: Allen Beteiligten bereitet das großen Spaß. Mit diesem „Reflektor“-Festival hat die Elbphilharmonie einen Volltreffer gelandet, das dürfte auch der Perfektionist Zorn so sehen – selbst wenn er sich vielleicht ein wenig grämt, schon wieder viel zu viel geatmet zu haben.