Hamburg. Wie die Talkshow sich mit der Zeit verändert hat und wie Berlins Ex-Bürgermeister dem Moderator das Wort im Munde umdreht.

Jahrelang wurde er nicht ernst genommen und zum Teil übel verspottet – jetzt hat Markus Lanz „die wirkungsvollste politische Bühne, die es im Fernsehen gibt“ (Giovanni di Lorenzo), wurde für seine Talksendung mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Information ausgezeichnet. Was ist da passiert? Wie hat Lanz es geschafft, aus seinen viel kritisierten Schwächen („er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort“) viel gelobte Stärken („endlich fragt mal einer nach!“) zu machen? Lars Haider will es, wie der Moderator, genau wissen und sieht sich deshalb ein halbes Jahr jede Sendung an. Hier lesen Sie seine Berichte über das Leben mit Lanz.

14. Juni, Gäste: Politikerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), Journalistin Kerstin Münstermann, Psychologe Stephan Grünewald, Virologin  Jana Schroeder

Drei Tage vor der Sendung sind Frank Otto, Sohn des Versandhausgründers Werner Otto, und Nathalie Volk, Teilnehmerin bei „Germanys next Topmodel“, überraschend gemeinsam beim Hamburger Presseball aufgetreten. Der Unternehmer und die „angehende Schauspielerin“ sind offensichtlich wieder ein Paar, die Trennung ist vergessen und das Interesse der Boulevardmedien sehr groß, weil zwischen den beiden Prominenten ein Altersunterschied von fast 40 Jahren liegt. Was das mit Markus Lanz zu tun hat? Heute nichts mehr, aber früher hätte die Redaktion alles dafür getan, Otto und Volk in die Sendung zu bekommen. Vor fünf Jahren waren die zwei tatsächlich bei Lanz zu Gast; wer sich die Folge von damals ansieht, muss glauben, dass es sich um ein anderes Talkshow-Format handelt.

Die Unterschiede zu 2022 könnten nicht größer sein, auch wenn das immer noch nicht alle mitbekommen haben. Sogar Gregor Gysi nicht, der in seiner Reihe „Missverstehen Sie mich richtig“ Markus Lanz Ende Mai mehr als zwei Stunden befragt hat und unter anderem wissen wollte, nach welchen Kriterien Menschen in die Sendung eingeladen werden und was den Gäste-Mix ausmacht. Na ja, sagte Lanz, sichtlich überrascht, dass ausgerechnet sein Dauer-Gast Gysi eine solche Frage stellte, „eigentlich sind wir inzwischen eine rein politische Gesprächsrunde“.

Das ist auch an diesem Dienstag so, an dem es um den bevorstehenden Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Ukraine sowie das Aufflammen der Corona-Pandemie geht – und um die Debatte über ein soziales Pflichtjahr, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ausgelöst hat. Der macht sich Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland, es ist das Thema, über das Markus Lanz im Gespräch mit Gysi gesagt hat: „Die soziale Frage ist die größte Frage unserer Zeit.“

Dass dieser Eindruck richtig ist, bestätigt der Psychologe Stephan Grünewald, der seit Jahren die Stimmungen der Deutschen erfasst: „Die Grundangst der Menschen ist, dass die Gesellschaft sich weiter entzweit. Die Angst ist noch stärker ausgeprägt als die Angst vor dem Klimawandel.“ Es gebe nur zwei Momente, in denen gesellschaftlicher Zusammenhalt als Wirklichkeit erfahren werde. Vor dem Fernseher, wenn sich so viele Menschen eine Sendung ansehen und am nächsten Tag darüber sprechen, sodass das Gefühl entstehen kann, sie gemeinsam angeschaut zu haben.

Und in der Schule, vor allem in den ersten vier Jahren, in denen Kinder aus unterschiedlichsten sozialen Bereichen gemeinsam (und etwas über die anderen) lernen würden. Es sei falsch, so Grünwald, wenn Schülerinnen und Schüler nach dieser Zeit so radikal getrennt würden, wie das in Deutschland nach wie vor der Fall sei: „Die kriegen überhaupt nicht mit, wie divergent die Welt ist, dass es andere Perspektiven und andere Milieus gibt.“

Deshalb würde er als Psychologe es gut finden, wenn es ein oder eineinhalb Jahre einer sozialen (Pflicht-)Zeit gebe, in denen die jungen Menschen die Chance hätten, „noch einmal nachzureifen. Wenn uns Zusammenhalt wichtig ist, brauchen wir Begegnungsräume jenseits der Blasen.“ Genau so ein Begegnungsraum will Markus Lanz mit seiner Sendung sein.

15. Juni, Gäste: Politiker Michael Müller (SPD), Journalistin Claudia Kade, Politologin Gwendolyn Sasse und Ökonom Stefan Kooths

Seit mehreren Monaten fragt Markus Lanz sich und seine Gäste, wann Olaf Scholz nach Kiew fährt, und immer klingt der Vorwurf mit, dass er sich mit dieser Reise ins Kriegsgebiet zu lange Zeit gelassen hat. Nun macht sich der Kanzler gemeinsam mit den Regierungschefs von Italien und Frankreich, Mario Draghi und Emmanuel Macron, auf den Weg in die Ukraine, und es stellt sich eine neue Frage. Was wird Scholz dort verkünden? Er hatte betont, dass er nicht allein der Fotos und symbolischen Bedeutung wegen ­Kiew besuchen wolle, und Markus Lanz fragt deshalb: „Wohin geht die Reise, was wird das für ein Europa, das wir da gerade bauen?“ Werden Scholz, Macron und Draghi, die Lenker der drei wichtigsten Länder in Europa, verkünden, dass die Ukraine offizieller Beitrittskandidat der Europäischen Union wird?­

Die Antwort gibt die Politologin Gwendolyn Sasse: „Ich würde so weit gehen, dass morgen oder nächste Woche ein historischer Moment ist, der sich mit den Anfängen der EU vergleichen lässt, in den 1950ern (…) Es ist der Moment, in dem alle Mitgliedstaaten eine Entscheidung fällen, ein wichtiges Signal senden würden. (…) Und meiner Ansicht nach muss man diese Entscheidung jetzt treffen.“ Allerdings dürfe man die Kriterien eines EU-Beitritts nicht aufweichen, auch wenn Markus Lanz das nicht versteht: „Kriterien, alles gut und schön. Aber da wird gerade ein ganzes Land einfach in Schutt und Asche gelegt. Da sind Zehntausende Zivilisten mittlerweile gestorben (…) Der parlamentarische Betrieb in der Ukraine geht weiter, ich find das ganz bemerkenswert, das die immer noch weiter versuchen, ihr Land am Laufen zu halten. Müssen wir das nicht irgendwann mal würdigen?“

Der Beitrittsstatus wäre doch so ein Schritt, sagt die „Welt“-Journalistin Claudia Kade, man könne aber nicht von Scholz, Draghi und Macron erwarten, dass sie die Ukraine gleich als Vollmitglied begrüßen, „das ist unrealistisch, das überfordert alle Seiten“. Und der Krieg würde damit auch nicht enden. Damit die Ukraine den Angriffen Russlands standhalten und zurückschlagen kann, „hat Bundesverteidigungsministerin Christine Lam­brecht heute drei Mehrfach-Raketenwerfer angekündigt“, erzählt Lanz wenig später, ohne zu ahnen, dass sich daraus ein Wort-Gefecht mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten und früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, ergeben wird.

Der sagt: „Das ist ein schönes Beispiel. Ich bin genauso darüber gestolpert wie Sie offensichtlich, bei der Meldung, und ­dachte: drei? Ist das nicht ein bisschen wenig?“

Lanz: „Drei Mehrfach-Raketenwerfer.“

Müller: „Und dann habe ich den Artikel weitergelesen, Herr Lanz, und habe gesehen, dass die USA vier liefern und Frankreich auch drei.“

Lanz: „Mir geht es nicht um die Zahl.“

Müller: „Doch. Es geht um die Zahl …“

Lanz: „Nein, Sie wissen nicht, worum es mir geht.“

Müller: „Doch, und Sie betonen es ja auch so.“

Lanz: „Nein.“

Müller: „Die Zahl drei karikiert das Verhalten Deutschlands. Sie liefern nur drei.“

Lanz: „Nein, Entschuldigung, nein, nein, nein.“

Müller: „Sie liefern nur drei. Aber wenn man es weiterliest …“

Lanz: „Das habe ich nicht formuliert. Herr Müller, das habe ich nicht formuliert, bitte. Wir kennen und wir schätzen uns.“

Müller: „Ich habe es so verstanden.“ Und als Zuschauer denkt man: Verkehrte Welt bei Markus Lanz, so kann es auch gehen.

16. Juni, Gäste: Der ehemalige Box-Weltmeister Wladimir Klitschko, Politiker Manfred Weber (CSU/EVP), Journalistin Kristina Dunz, Militärexperte Christian Mölling

Normalerweise zeichnet Markus Lanz die letzte Sendung der Woche, die vom Donnerstag, am späteren Mittwochabend auf. Das geht diesmal nicht, Olaf Scholz ist erst am Morgen in Kiew eingetroffen, hat mit Mario Draghi und Emmanuel Macron den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj besucht und seinem Land, wie bei Markus Lanz am 15. Juni vorhergesagt, eine Aufnahme in die Europäische Union in Aussicht gestellt.

Seit Stunden wird die Reise des Bundeskanzlers im Fernsehen analysiert, in Spezialsendungen auf ARD und ZDF, in einer Sonderausgabe der „Phönix Runde“, natürlich bei Maybrit Illner. Lanz ist wieder als Letzter dran, um kurz vor Mitternacht, seine „Liebe zum ZDF“, die er in dem Gespräch mit Gregor Gysi auch erwähnt hat, wird einmal mehr auf die Probe gestellt. Aus Kiew ist Wladimir Klitschko zugeschaltet, wie Lanz zwischenzeitlich ein Wahlhamburger, die beiden kennen sich, Klitschko gehört zu den wenigen Gästen, die der Moderator in der Sendung duzt.

Der ehemalige Box-Weltmeister hatte zuletzt Deutschland, dem die Ukraine „sehr viel verdanke“, gegen die Kritik seines Präsidenten und des Botschafters in Schutz genommen. Was Scholz, Macron und Draghi jetzt in Kiew gesagt hätten, sei eine wichtige Botschaft vor allem an Russland, „dass die Welt gegen diese Aggression ist“. Er freue sich über die Perspektive, mit der Ukraine eines Tages Teil der EU sein zu dürfen: „Wir streben nach Demokratie, wir streben nach Freiheit und wollen mit der europäischen Familie gemeinsam stehen und leben.“ Erst einmal gehe es aber ums Überleben: „Es geht um die Souveränität unseres Landes, die Ukrainerinnen und Ukrainer sind bereit, dafür alles zu geben.“ Bevor Friedensverhandlungen begännen, müsse die russische Armee die Ukraine verlassen. Aber ist das realistisch?

Der Militärexperte Christian Mölling sagt, dass der Krieg zum jetzigen Zeitpunkt „nur militärisch entschieden“ werden könne: „Frieden können sie nur schließen, wenn beide Seiten meinen, dass der Waffengang nicht mehr lohnt. (…) Ich glaube, da liegt auf deutscher Seite die Illusion, man müsste es den Russen bloß anbieten, dann würde es schon passieren.“

Die Journalistin Kristina Dunz glaubt, dass der „Tag unglaublich bedeutend für die Ukraine“ war, sagt aber: „Es war sehr sichtbar, dass das Verhältnis zwischen Präsident Selenskyj und dem Bundeskanzler am angespanntesten ist.“ Was unter anderem daran liegt, dass Scholz nicht die Führungsrolle in der Unterstützung der Ukraine übernommen hat, die man dort von ihm erwartet. „Er wird auch nicht der europäische Führer werden, er will seine Verantwortung etwas kleiner halten. (…) Ich habe das Gefühl, dass er sehr stark unter diesem Druck ist, nichts falsch machen zu dürfen, auf keinen Fall, für sein Land. Das steht an erster Stelle.“

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Dabei gehe es um viel mehr, so der Europa-Politiker Manfred Weber: „Wenn Putin Erfolg hat, entscheiden wir in diesen Tagen, in welcher Welt wir in den nächsten Jahrzehnten leben. (…) Und ich will in dieser Welt nicht leben. Ich will in einer Welt leben, in der Recht und Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit obsiegen. Das ist die Grundsatzfrage, die im Raum steht, und deshalb brauchen wir Entschlossenheit und Stärke.“