Hamburg. China, Waffenlieferungen und Annalena Baerbock: Auch diese Woche war “Markus Lanz“ wieder vom Ukraine-Krieg geprägt. Eine Analyse.
Jahrelang wurde er nicht ernst genommen und zum Teil übel verspottet – jetzt hat Markus Lanz „die wirkungsvollste politische Bühne, die es im Fernsehen gibt“ (Giovanni di Lorenzo), wurde für seine Talksendung mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Information ausgezeichnet. Was ist da passiert? Wie hat Lanz es geschafft, aus seinen viel kritisierten Schwächen („Er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort“) viel gelobte Stärken („Endlich fragt mal einer nach!“) zu machen? Lars Haider will es, wie der Moderator, genau wissen, und sieht sich deshalb ein halbes Jahr jede Sendung an. Hier lesen Sie seine Berichte über das Leben mit Lanz.
31. Mai, Gäste: Politiker Norbert Röttgen (CDU), Jan van Aken (Linke), Politikwissenschaftlerin Liana Fix, Ökonom Marcel Fratzscher, Lehrerin Hanna Polonska
Wie muss eine Sendung aussehen, die den Anspruch hat, ihren Zuschauerinnen und Zuschauern bei der politischen Meinungsbildung zu helfen? Vielleicht so wie diese Folge von „Markus Lanz“, in der der Ukraine-Krieg, die Reaktion Deutschlands und seiner Verbündeten, die Sanktionen und Konsequenzen von allen Seiten besprochen werden, und Menschen mit sehr unterschiedlichen Sichtweisen zu Wort kommen. Der CDU-Politiker Norbert Röttgen hat die Sorge, dass die europäischen Regierungen nach fast 100 Tagen anfangen, „mehr an sich zu denken“ als an die Menschen in der Ukraine.
Deutschland liefere die versprochenen und dringend benötigten schweren Waffen nicht, obwohl der Bundestag das beschlossen habe, sagt er: „Es ist politischer Wille, das nicht zu tun.“ Röttgen glaubt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz eine heimliche Agenda verfolge, „es ist die Fortgeltung alten sozialdemokratischen Denkens: Russland ist eine Realität, Russland ist wichtiger als die anderen Staaten, und wir wollen mit Russland verhandeln.“ Deshalb tue die deutsche Regierung nichts, was die Gesprächsfähigkeit mit Russland gefährde.
Jan van Aken, wie Röttgen Außenpolitiker, aber von den Linken, sieht das völlig anders: „Ich finde Waffenlieferungen falsch, weil sie eben nicht dazu führen, dass Moskau schnell zu einer Friedensverhandlung gezwungen wird. (…) Sie müssen Druck auf Moskau an einer Stelle ausüben, deshalb bin ich dafür, dass diese (wirtschaftlichen) Sanktionen endlich einmal scharf gestellt werden.“
Dabei wiederum kann die Politikwissenschaftlerin Liana Fix nicht mitgehen: „Auf mittel- und langfristige Sicht ist dieses Sanktionspaket eines der mächtigsten Sanktionspakete, die gegen ein wirtschaftlich so großes Land wie Russland geschnürt worden sind.“ Das Problem sei sowieso ein anderes, sagt schließlich Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Das Problem sei, dass es „China und Indien gibt, große Volkswirtschaften, die Russland immer noch mit wichtigen Dingen versorgen. (…) Wenn es uns gelingen würde, China und Indien mit an Bord zu bekommen, wären die Sanktionen viel effektiver.“
Markus Lanz fragt sich an dieser Stelle, warum Bundeskanzler Olaf Scholz nicht mehr Druck auf den chinesischen Staatschef Xi Jinping macht, merkt aber selbst, dass das naiv ist.
„Wir müssen ein bisschen vorsichtig sein bei der Vorstellung, wir müssten nur mit China reden, und dann wird es schon unserer Russland-Politik folgen“, sagt Fix. Vor allem müssen wir vorsichtig sein, unsere eigenen Probleme, etwa die auf fast acht Prozent gestiegene Inflation, höher zu bewerten als die Schicksale vieler Millionen Ukrainer. Eines davon hat Markus Lanz am Anfang der Sendung in einem Gespräch mit der Deutschlehrerin Hanna Polonska gezeigt, die im Krieg ihren Mann und ihr ungeborenes Baby verloren und die jetzt nur noch ihren Hund hat. Norbert Röttgen sagt: „Wir müssen uns bewusst bleiben, dass es um Krieg geht und was Krieg bedeutet. Und dass es bei allen Schwierigkeiten, die wir in Deutschland haben, mit höheren Preisen, ein Nichts ist gegenüber diesem Schicksal.“
1. Juni, Gäste: Politiker Annalena Baerbock (Grüne), Carsten Linnemann (CDU), Journalisten Anja Maier, Christoph Giesen und Ulf Röller
Annalena Baerbock zählte bei Markus Lanz bisher zu den Gästen der Kategorie „waren einmal da, kommen ungern wieder“. „Sie traut sich nicht“, hat Lanz‘ Chefredakteur Markus Heidemanns Ende vergangenen Jahres gesagt. Eine ihrer letzten Auftritte im Sommer 2019, damals zusammen mit Robert Habeck, beschrieb die „Frankfurter Rundschau“ so: „Lanz wollte die Grünen-Überflieger mit Inhalten stellen, nicht um den heißen Brei reden. Und tatsächlich ging es am Donnerstagabend in seiner ZDF-Talkshow richtig zur Sache, sowohl vonseiten der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck, als auch vom Moderator selbst. Fast wäre die Stimmung ganz gekippt. (…) Baerbock zeigte sich genervt, als sie einen Laut von Lanz als Redeunterbrechung wahrnahm, sich in seine Richtung umdrehte und ‚Ich hab doch gar nichts gesagt‘ zischte. Nun reichte es dem ZDF-Moderator: ‚Das war nur zustimmend gemeint. Bitte lasst uns diese Schärfe hier rausnehmen. Wir sind doch alle einig, dass wir hier was wissen und erfahren wollen. Ich will Ihnen nichts und persönlich schon mal gar nicht. Ich mag diesen Unterton nicht, vielleicht können wir den ja weglassen‘, pflaumte er die beiden Grünen-Politiker an.“
Seitdem hatten die Einladungen von Markus Lanz an Annalena Baerbock wenig Erfolg, bis jetzt. An diesem 1. Juni ist die Grünen-Politikerin zum ersten Mal als Außenministerin zu Gast, zugeschaltet aus Berlin. Die Frage, ob sie sich traut, hat sich damit nicht nur erledigt, sie dürfte sich auch künftig nicht mehr stellen. Wer mit Männern wie dem russischen Außenminister Sergej Lawrow verhandelt, hat keine Angst vor Markus Lanz. Der unterbricht Baerbock diesmal kaum, die ersten 30 Minuten der Sendung gehören ausschließlich ihr.
Was auch daran liegt, dass die Politikerin die wichtigsten Fragen zum Krieg in der Ukraine so erklärt, klar, empathisch und ohne auszuweichen, wie Lanz das von allen Politikern erwarten würde, vor allem vom Bundeskanzler.
Lanz: „Heute gab es einen interessanten Moment im Bundestag. Scholz, der so lange eigentlich nicht wirklich sagen wollte, was und in welchem Umfang wir genau in die Ukraine liefern, der Kanzler, sprach heute sehr dezidiert davon, von Waffen, von Material. (…) Er hat nie so explizit darüber gesprochen, und die große Frage, die wir vielleicht gleich klären können, ist: Warum ausgerechnet heute, warum dieser Moment?“
Baerbock: „Aber das ist kein neuer Moment. Alles, was Herr Scholz, was der Bundeskanzler heute vorgetragen hat, ist seit Wochen bekannt …“
Lanz: „… nicht von ihm…“
Baerbock: „… das habe ich im Bundestag schon vorgetragen, das hat die Verteidigungsministerin schon vorgetragen. Über viele Bereiche hat der Bundeskanzler auch selbst schon gesprochen, vielleicht nicht so hintereinander weg, alles aufgelistet, weil die zuständigen Fachministerinnen das getan haben. Aber es macht ja noch einmal deutlich, dass dieses Bild, das von einigen gezeichnet wird, Deutschland würde gar nichts tun, dass das absolut nicht stimmt.“
Lanz: „Ihr ukrainischer Außenministerkollege sagt: ‚Es gibt Länder, bei denen wir auf die Lieferungen warten, und Länder, bei denen wir es inzwischen satt sind zu warten.‘ Deutschland gehört in die zweite Gruppe.“
Baerbock: (…) „Wenn wir sagen, dass dauert ein paar Tage, tun wir das aus guten Gründen. Aber natürlich wird auf ukrainischer Seite gesagt, ob wir nicht alles tun können, dass das ein bisschen schneller geht. Und das ist dann gar kein Gegeneinander, sondern das ist der Situation und dem Umstand geschuldet, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer jeden Tag miterleben müssen, dass Kinder, dass Alte, dass Erwachsene ums Leben kommen. Deswegen klafft manchmal die Kommunikation ein bisschen auseinander.“ (…) „Ich denke auch immer wieder: Wo können wir besser, wo können wir schneller werden? Aber niemand hat sich vorstellen können, dass wir in so einen brutalen Angriffs-, und ich habe heute auch gesagt Vernichtungskrieg in der Ukraine reingeraten. Niemand hat sich vorstellen können, dass wir überhaupt in Europa darüber reden, schweres militärisches Gerät so schnell zum Einsatz zu bringen. Und dann sind wir in einer Situation, dass wir zum Glück in den letzten Jahren als Nato selber nicht nur Aufrüstung betrieben haben, weil wir nicht wie Russland einen Krieg geplant haben, dass wir deswegen in manchen Bereichen einfach Lücken haben. Und mit dieser Situation müssen wir jetzt umgehen, und zwar so umgehen, dass wir schnell und bestmöglich helfen können, wissentlich, dass es nicht die perfekte Lösung gibt.“
Lanz: „Frau Baerbock, ich hören Ihnen gerade gebannt zu. Sie sagen jetzt bereits zum dritten oder vierten Mal: Ich frage mich immer wieder, wo können wir besser werden, wo können wir schneller werden? Darf ich Sie mal was ganz Persönliches fragen? Wie frustriert sind Sie manchmal, dass wir offensichtlich so langsam sind und nicht so pragmatisch wie Sie? Ihr Parteikollege Anton Hofreiter saß vor einiger Zeit hier und sagte, dass nach seinem Dafürhalten das Problem im Kanzleramt sitze.“
Baerbock: „Aber das ist das Gegenteil von dem, was gerade der Situation gerecht wird. Ich kann es verstehen, dass es in der Öffentlichkeit und den Medien gern darum geht, der ist schuld oder der. Wir sind in einer Situation, die hat es so noch nicht gegeben. Wir müssen alle an einem Strang ziehen.“ (…)
Sagt die Außenministerin, und kurz darauf: „Eine Politik, die auf so eine Tragödie kalt reagiert oder sich abschottet oder bewusst sagt, ich muss eine Mauer um mich bauen, damit mich das nicht berührt, die kann gar nicht verantwortungsvoll handeln. Und natürlich ist es zeitgleich so, dass man sich nicht von Emotionen überrennen lassen darf. Deswegen, auch wenn es einem das Herz zerreißt, muss man einen kühlen Kopf haben.“ (…)
Lanz: „Der Kanzler sagt, Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Was sagen Sie?“
Baerbock: „Ich sage, das stimmt, was der Kanzler sagt, das habe ich auch schon sehr, sehr oft selbst gesagt. Natürlich darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen, sondern muss ihn strategisch verlieren …“
Lanz: „… aber muss die Ukraine gewinnen?“
Baerbock: „(…) Die Ukraine darf auf keinen Fall verlieren, die Ukraine muss gewinnen.“
Als das Gespräch und die Schaltung zur Außenministerin nach Berlin beendet ist, sagt der CDU-Politiker Carsten Linnemann über den Auftritt: „Sie ist aufgeräumt, sie hat eine klare Linie, erklärt ihre Politik, sie redet nicht drum herum. (…) Das, was Sie macht, erwarten die Bürger.“ Und Markus Lanz, der bei keinem Interview mit einem Politiker im Jahr 2022 so oft „ja“ und „genau“ gesagt hat, wie in dieser halben Stunde mit Annalena Baerbock.
2. Juni, Gäste: Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, Journalist Frederik Pleitgen und Journalistin Natalie Amiri
Markus Lanz sagt, dass er in seine Sendung keine Gäste einlädt, „damit es kracht“, es gehe ihm im Gegenteil darum, „etwas Substanzielles zu erzählen“. Normalerweise stimmt das, an diesem 2. Juni nicht. Die Folge ist ein Rückfall in ein altes Talkshow-Muster, mit Gästen, die sich untereinander auffordern, doch „mal aussprechen zu dürfen“, und einem Moderator, der nicht beruhigt, sondern sich über die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot aufregt, der es in der Diskussion über den Ukraine-Krieg zu viel um schwere Waffen und zu wenig um Verhandlungen und die Rolle der USA geht. Das hört sich dann so an:
Guérot: „Wir reden von 2008, 2014 Maidan, Bürgerkrieg in der Ukraine …“
Lanz: „Das hilft uns ja heute nicht weiter.“
Frederik Pleitgen, CNN-Journalist: „Genau, das hilft uns nicht weiter.“
Guérot: „Doch das hilft uns weiter.“
Lanz: „Wissen Sie, womit ich ein Problem habe? Darf ich noch mal ganz kurz, bitte. Der Satz: ‚Das war eine völkerrechtswidrige Grenzüberschreitung‘, sagen Sie.“
Guérot: „Ja.“
Lanz: „Ich habe allein mit den Begrifflichkeiten ein gigantisches Problem. Wissen Sie, da sterben Menschen, viele Menschen, da werden Städte zerstört. (…) Sie nennen es eine Grenzüberschreitung, ich bitte Sie.“
Guérot: „Ich meine das ganz physisch. Putin ist über die Grenze …“
Lanz: „Okay, sehen Sie es mir nach, ich habe das anders interpretiert.“
Guérot: „Dann haben Sie es falsch interpretiert.“
Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann geht rein: „Er hat das Land überfallen.“
Lanz: „Und Sie sagen: ‚Die entscheidende Frage ist, wer mitmacht.‘ Was heißt denn das? Entschuldigung, wenn Sie angegriffen werden, und Sie wehren sich, machen Sie dann mit?“
Guérot: „So, die Frage ist …“
Lanz: „Frau Guérot, bitte, antworten Sie einmal auf diese Frage, ganz einfach.“
Guérot: „Hören Sie, wenn zwei sich streiten, wie kann sich denn einer streiten ohne den anderen?“
Strack-Zimmermann: „Sie können heute Nacht in den Park gehen und werden überfallen …“
Guérot: „Aber das sind ja die falschen Beispiele.“
Lanz: „Ne, ne, das ist genau das richtige Beispiel.“ (…)
Guérot: „Die Frage ist: Haben wir hier eine Analyse, die darauf beruht, dass Putin allein das Übel ist?“
Lanz: „Die Antwort ist ja.“
Guérot: „Die Antwort ist nein.“
Lanz: „Die klare Antwort ist ja. (…) Frau Guérot, bitte, bevor das hier völlig entgleitet.“
Doch da war es schon zu spät.