Hamburg. Michel Houellebecq findet in seinem neuen Roman „Vernichten“ Zuflucht in Ehe und Familie. Auch Frankreich steht besser da als zuvor.
Es kann gar nicht anders sein, das ist der volltönende, bombastische Schlussakkord im Werk des großen Schriftstellers, Denkers und Erotikers Michel Houellebecq: Der Held seines neuen Romans bekommt einen Blowjob. Er dauert drei Stunden. Er ist eine Offenbarung. Überhaupt ist Paul Raison, die Hauptfigur von „Vernichten,“ an einem Punkt der vollendeten geschlechtlichen Befriedigung angelangt. Sogar mit der eigenen Ehefrau. Sie heißt Prudence, und sie macht in diesem furiosen Finale von Houellebecqs jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit dem unstillbaren Trieb des Mannes mit Bedacht und Umsicht ihren Mann: sehr glücklich. Endlich Frieden in den Lenden, Halleluja!
Das ist bei Houellebecq bekanntlich der maskuline Ausnahmezustand; seine Figuren befinden sich beinah durchweg auf der sexuellen Nulllinie, seit der Franzose 1999 mit seinem Debüt „Ausweitung der Kampfzone“ auf der Bildfläche erschien. Da ist der Oralsex tatsächlich finalement der Beweis: Es gibt ein erfüllendes Liebesleben. Auch bei den Jammerlappen in den Romanen eines französischen Bestsellerautors. Es könnte tatsächlich ein Ende, eine Pointe, eine Versöhnung sein. Im Nachwort von „Vernichten“ schreibt Michel Houellebecq einen allerletzten Halbsatz, der auf ein zukünftiges Pensionärsdasein hinweisen könnte – „für mich ist es Zeit aufzuhören“.
Michel Houellebecq: Figur Paul erfährt die Segnungen des Sexuellen
Die Frage ist, wie gut er es wirklich mit seiner Figur Paul meint, die in „Vernichten“ zwar die Segnungen des Sexuellen erfährt, sich gleichzeitig aber auch einer Krebsbehandlung unterziehen muss. Paul ist Ende 40, als die Romanhandlung einsetzt; ein Absolvent einer der im Nachbarland Karriere-bedingenden Eliteschulen, der im Wirtschaftsministerium die engste Vertrauensperson des Ministers ist. Der soll den Präsidenten beerben, dessen Abgang nach zwei Amtszeiten bevorsteht. Es ist das Jahr 2027. Ein typischer Schachzug Houellebecqs, dieses Setting in naher Zukunft. Es ermöglicht die geistreiche gesellschaftspolitische Spekulation, ohne in Science-Fiction ausarten zu müssen.
Will man „Vernichten“ als altersmildes Werk lesen, und vieles spricht dafür, dann fallen die neu-französischen Herrlichkeiten und alt-bukolischen Landschaftsbeschreibungen fett ins Auge. Die nächste Frankreich-Reise, gleich in welche Provinz, aber am liebsten doch ins Beaujolais, ist quasi gebucht. Nie hat Houellebecq so, nun ja, patriotisch über sein Land geschrieben wie hier. Er geizt nicht mit den Reizen der stolzen Nation.
Michel Houellebecq und die Renaissance der Wirtschaftsmacht Frankreich
Das gilt auch für die Wirtschaftsleistung des doch in der Realität zuletzt oft schwächelnden Landes. Vive la France: Auch bei den Luxusautos kann man mittlerweile mithalten, Citroën ist so stark wie Mercedes. Es gibt eine Renaissance der Wirtschaftsmacht Frankreich zu bestaunen. Ein Wohlsein, das sich zunächst in der Hauptfigur spiegelt: Als wir Paul erstmals antreffen, hat er zwar trotz (oder wegen) Ehe seit zehn Jahren keinen Sex gehabt, ist aber zumindest auf Tuchfühlung zu den Schalthebeln der Macht. In „Vernichten“, dieser eigenartigen und im Übrigen mehr als 600 Seiten dicken Mischung aus Politroman, Familienerzählung und Frankreich-Story, geht es also keineswegs primär um Sex.
Warum das so ist? Weil Sex nichts weiter als ein „jämmerliches Phantasma“ sei, wie der Erzähler des Romans kundtut, die Zahl der Asexuellen steige stetig. Das ist allerbester Houellebecq, überhaupt verdient „Vernichten“ fraglos das Superpessimisten-Gütesiegel – trotz der vielen Signale in Richtung nie dagewesener Friedfertigkeit. Der leicht absurde Wirklichkeitszugriff ist immer noch
da, die Lust an der Provokation; werfe Houellebecq niemand vor, er sei ermattet. Es gibt vor dem angesprochenen einen weiteren Blowjob zu bestaunen, als Paul, quasi per Selbstdelegation ins Sex-Trainingslager vor der Wiedervereinigung mit seiner Frau, eine Escort-Dame bucht. Es ist schummrig in deren Appartement, aber als sie zugange ist und auf sein Begehr hin das Licht anknipst, stellt er halt doch fest: Ups, das ist ja meine Nichte.
Selbstgewiss dahingeworfene Aussagen im Stil des Analytikers
Der anstrengungslose, selbstverständliche Houellebecq-Flow entfaltet sich weiterhin auch in den unvergleichlich apodiktischen und selbstgewiss dahingeworfenen Aussagen im Stil des Analytikers. Es gibt Leute, die halten Houellebecq im Grunde für einen schlechten Schriftsteller, dabei genügt ihm für seine seismografischen Gesellschaftsromane halt ein literarisches Besteck, das mit dem Notwendigen auskommt.
Eine stetig brodelnde Bedrohung durchzieht die Romanhandlung. Es gibt digital verbreitete Gewaltfantasien, tatsächliche Anschläge etwa auf Flüchtlingskutter, und beim Helden stete Zahnschmerzen. Irgendetwas, innendrin in diesem Frankreich, in dieser westlichen Welt, ist weiterhin faul. Das Buchcover ist allbereite untergangslustige Hardcore-Romantik à la Caspar David Friedrich. Gefühlstief ist dieser Roman, und er findet einen für Houellebecq überraschenden Fluchtpunkt: Ehe und Familie, „die verbliebenen Pole, die das Leben der letzte Bewohner des Abendlandes in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ordneten“.
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Die Familie Pauls rückt parallel zu dessen ehelicher Wiedervereinigung wieder zusammen. Der Vater, ein Ex-Geheimdienstler, liegt nach einem Hirninfarkt erst im Koma, dann sitzt er im Rollstuhl. Bizarrerweise befreit ihn die Familie, um sein Überleben zu sichern, mit der Manpower der Identitären aus der Klinik. Pauls Schwager war früher selbst bei der Bewegung und wählt den Rassemblement National. Was Paul nicht juckt: Mag es auch Angriffe von außen geben, wenn es um die Familie geht, ist Frankreich geeint. Hier passt alles zusammen: Sympathie für die Terroristen, Sex, das Nicht-Ertragen der Vergänglichkeit, Katholizismus, Establishment.
Michel Houellebecq: „Vernichten“, Übersetung von Stephan Kleiner u. Bernd Wilczek, Dumont, 624 Seiten, 28 Euro