Hamburg. Die Symphoniker widmen der berühmten Pianistin ein zehntägiges Fest. Zum Auftakt auf Kampnagel geht es um jüdisches Leben in Europa.
Die Laeiszhalle ist geschlossen – dann gehen wir für die Eröffnung des Martha Argerich Festivals doch nach Kampnagel. Was auf Anhieb nach Ersatzlösung klingt, könnte das Seine zur Programmgestaltung beigetragen haben, steht die Kulturfabrik in Winterhude doch für Verschränkung, Debatte, Teilhabe – ganz anders als ein klassischer Konzertsaal. Jedenfalls besteht der XXL-Eröffnungsabend aus Lesung, Konzert und Podiumsdiskussion.
Martha Argerich: Dieser XXL-Abend ist dringend notwendig
Wann wäre ein solches Format nötiger gewesen als jetzt? In einer Zeit, in der alle Gewissheiten wegzurutschen scheinen, in der die Mehrheitsgesellschaft – dass es die Mehrheit ist, sei jetzt mal hoffnungsvoll unterstellt – ratlos vor dem immer rabiateren Verhalten an den politischen Rändern steht? Nach der Zäsur des Hamas-Terrors am 7. Oktober? Es geht an diesem Abend um jüdisches Leben in Europa. Daniel Kühnel, Intendant der Symphoniker Hamburg, Initiator und Gastgeber des Festivals, hat ihn „Scholem Alejchem“ überschrieben, das bedeutet auf Hebräisch „Friede sei mit euch“. Einerseits.
Andererseits ist es das Pseudonym des Schriftstellers mit bürgerlichem Namen Scholem Jankew Rabinowitsch. Der schrieb auf Jiddisch und hat mit Tewje dem Milchmann das Vorbild zu dem berühmten Musical „Anatevka“ geschaffen. Er starb 1916, lange vor dem Siegesmarsch des Nationalsozialismus. Und doch hat er, der Humorist, Leid und Verfolgung der Juden in den osteuropäischen Schtetln in einer Weise literarisch verarbeitet, die das Grauen der Shoah bereits in sich trägt.
Martha Argerich tupft auf Kampnagel staunenswerte Pianissimo-Läufe hin
Zum Auftakt liest Hans-Jürgen Schatz im Foyer aus Scholem Alejchems „Geschichten von Tausend und einer Nacht“. Die haben mit dem orientalischen Märchenzyklus vor allem die Erzählstruktur gemein: Der Autor begegnet auf der Schiffspassage von Kopenhagen nach New York einem polnischen Juden, der ihm in Stationen vom Schicksal seiner Familie und den Bewohnern seines Städtchens berichtet. In einem fast befremdlich lakonischen Ton und rhythmisiert durch immergleiche kurze Erläuterungen, die die Erzählung gleichsam in Vignetten fassen, erfährt der Mitreisende und erfahren wir davon, wie die Juden in dem Konflikt zwischen Deutschen, Polen und Russen aufgerieben werden.
Die Erinnerungen lassen den Alten nicht schlafen, weil es bei ihm „in den Ohren schießt“; er sieht seinen ältesten Sohn an dem Baum stehen, an dem dieser gehängt werden wird – wenigstens wird er ihm nicht selbst den Strick als Orden um den Hals legen, wie es ihm der deutsche General befohlen hat. Und vielleicht, vielleicht hat es ja sein Zweitgeborener, der zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde, ja doch nach Amerika geschafft.
Es entsteht ein düsteres, aber nuanciertes Bild des untergegangenen Europa
Das letzte Kapitel liest Schatz auf der Konzertbühne. Daran schließen unmittelbar leise grollende Basstöne an. Martha Argerich sitzt an einem der beiden Flügel und ihr Schüler Sergio Tiempo, jung und weltweit gefragt, am anderen. Maurice Ravel hat „La Valse“ 1920 eigentlich für großes Orchester geschrieben, er hat aber selbst eine Fassung für zwei Klaviere arrangiert. Unter den 20 Fingern entsteht ein düsteres, brüchiges, aber in feinsten Schattierungen nuanciertes Bild des untergegangenen Europa. Immer mal ragen aus dem unruhig bewegten musikalischen Fluss Walzermotive heraus wie Teile eines havarierten Schiffs. Die beiden musizieren so organisch zusammen, als wären sie ein lang eingespieltes Duo. Und wie Argerich ihre Pianissimo-Läufe in der Höhe hintupft, darüber kann man nur staunen.
Mit Samuel Weiss‘ Rezitation aus dem „Kaufmann von Venedig“ fühlt man mit
Die Musik wechselt ab mit Auszügen aus Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“. Shylock, als Jude gedemütigt, wird um einen Kredit gebeten. Samuel Weiss trägt Shylocks Überlegungen und Empfindungen dazu so lebhaft vor, dass man mit der Figur fühlt und die Kreditbedingung – der Darlehensnehmer verpfändet als Sicherheit ein Pfund seines eigenen Fleisches, auszuwählen von Shylock – beinahe nicht monströs findet.
Osvaldo Golijovs Quintett „The Dreams and Players of Isaac the Blind” von 1994, gespielt von dem Klarinettisten Pablo Barragán und einem Streichquartett aus Mitgliedern der Symphoniker, verbindet Klezmer-Anklänge mit gemäßigt modernen Klangeffekten. Das ist in seiner emotionalen Aussage gut zugänglich, nur ziemlich redundant und schlicht zu lang. Farbig, frisch und mitreißend spielen dagegen der Kontrabassist Haggai Cohen-Milo und seine Jazzband. Und mit Max Bruchs klingendem Gebet „Kol Nidrei“ setzen Edgar Moreau am Cello und Argerich am Klavier, extrafein phrasiert und geatmet, einen romantisch-gesanglichen Schlusspunkt. Das Publikum hat spürbar aufmerksam zugehört und bedankt sich enthusiastisch. „We love you, Martha!“ ruft jemand von oben.
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Martha Argerich: Diskussion um die Details des Antisemitismus
Das ist schon viel Stoff für Herz, Kopf und Ohren. Aber es geht ja noch weiter; zu später Stunde sind die ganz Unermüdlichen noch bei der Podiumsdiskussion dabei. Es dauert ein wenig, bis die vier auf dem Panel das eigentliche Thema „Das jüdische Volk, die Freiheit und der Kulturbetrieb“ eingekreist haben, aber dann ist das Publikum zunehmend wach, applaudiert mal dem Philosophen Christoph Menke, mal der Autorin Stella Leder und mal dem Historiker Michael Wolffsohn.
Es geht um wichtige Feinheiten wie die Frage, wie filigran der Begriff des Antisemitismus von anderen Vorurteilen abgegrenzt werden müsse oder ob es nicht vielmehr zunächst um dessen Wirkung im Alltag gehe. Dabei sind sich Diskutantin, Diskutanten und Kühnel als Moderator über das Grundlegende weitgehend einig. Das echte Leben mit seinen vielfältigen Gefahren für Juden in Deutschland – das findet draußen statt.