Hamburg. Politisch umstritten, vom Publikum geliebt: Zum Abschluss des Internationalen Musikfests in Hamburg leitet der Dirigent Brittens „War Requiem“.
Von wegen rauschender Höhe- und Schlusspunkt, Reden und Champagner: Das Internationale Musikfest Hamburg ist mit einem Requiem zu Ende gegangen. Eine schlüssigere Dramaturgie für die diesjährige Ausgabe lässt sich kaum denken. „Krieg und Frieden“ lautete deren Motto, und das wurde, anders als beliebigere Mottos aus früheren Jahren, in den Konzerten der zurückliegenden rund sieben Wochen so umfassend und genau ausgelotet, dass es immer wieder betroffen machte. Nachdenklich machte. Wehtat. Was es ja auch sollte.
Elbphilharmonie: Teodor Currentzis erschüttert den Großen Saal
Also erklingt in der Elbphilharmonie am letzten Abend nicht irgendein Requiem, nicht der anmutige Mozart oder der süffige Verdi, sondern das „War Requiem“ des erklärten Pazifisten Benjamin Britten. Am Pult des SWR Symphonieorchesters: Chefdirigent Teodor Currentzis. Ausgerechnet Currentzis dirigiert das „War Requiem“, das ist eine Ansage. Er ist in der westeuropäischen Klassikszene hoch umstritten, da seine freien Ensembles von staatsnahen russischen Unternehmen gefördert werden und er sich von Putins Krieg gegen die Ukraine nie ausdrücklich distanziert hat. Andere Veranstalter haben ihn deshalb wieder ausgeladen, die Elbphilharmonie aber bleibt ihm treu.
Und das Publikum auch. Der Große Saal ist ausverkauft; von den Querelen und Debatten um Currentzis‘ politische Verwicklungen ist nicht ein Hauch zu spüren. Im Zentrum steht die Musik mit ihrer Botschaft, und der werden Currentzis und die Seinen in den folgenden rund eineinhalb Stunden alle Ehre erweisen. Die Bühne ist voll mit dem Orchester samt Orgel-Spieltisch, Flügel, viel Blech, üppiger Schlagwerk-Batterie und separatem Kammerorchester; von den Rängen aus singen der London Symphony Chorus, das SWR Vokalensemble Stuttgart und, gleich neben der Orgel, der glänzend einstudierte Knabenchor Hannover.
Teodor Currentzis: Wo das Teufelsintervall im Spiel ist, kann keine Ruhe eintreten
Nicht ein Chorknabe, nicht eine Geige ist zu viel bei dem ganzen Aufwand. Britten nutzt die Möglichkeiten dieser riesigen Palette aus, um ein Manifest zu schaffen, freilich eines ohne Effekthascherei oder billigen Agitprop. Wie Wegweiser ziehen sich einzelne Klänge durch das Werk: Die Röhrenglocken etwa, die zu Beginn leise, aber unerbittlich an die Kathedrale St. Michael von Coventry erinnern. Die deutsche Luftwaffe hatte die englische Industriestadt 1940 dem Erdboden nahezu gleichgemacht; Britten schrieb das „War Requiem“ zur Einweihung der neu gebauten Kathedrale 1962.
„Requiem aeternam“ flüstert der Chor zum Glockenläuten, grundiert von einem ebenso leisen, bohrend sich windenden Unisono der Streicher – und irgendwo zieht immer wieder eine Dissonanz: der Tritonus. Das teuflische Intervall, einen Hauch weiter und damit schräger als das bundesdeutschen Musikschulkindern bekannte Feuerwehrintervall. Der Tritonus prägt das ganze Werk wie ein hintergründiger Zahnschmerz. Wo er im Spiel ist, kann keine Ruhe eintreten.
„Welche Totenglocken läuten denen, die wie Vieh sterben?“
Britten verschränkt zwei denkbar unterschiedliche Texte miteinander: Das staats-, oder hier besser: kirchentragende Latein der Totenmesse konfrontiert er mit Gedichten von Wilfred Owen, einem jungen Briten, der begeistert in den Ersten Weltkrieg gezogen war und das Grauen der Realität in schonungslose Verse fasste, bevor er mit 25 Jahren an der Front starb. Mit seiner Montage zieht der Komponist der katholischen Zuversicht den Boden unter den Füßen weg.
Die Gedichte vertraut er einem Tenor, einem Bariton und dem Kammerorchester an. Wenn der Chor bittet, „das ewige Licht leuchte ihnen“, dann fragt der Tenor mit Owens Worten: „Welche Totenglocken läuten denen, die wie Vieh sterben?“ Der Brite Allan Clayton schreit die Frage fast heraus, gejagt von den unruhigen Rhythmen des Kammerorchesters. Jedes Wort der englischen Texte ist bei ihm zu verstehen, er kann sein Timbre abschattieren, bis es nur noch fahl klingt, dann aber äußerste Verzweiflung in seine Stimme legen.
Elbphilharmonie: Die blechgleißenden Tutti-Ausbrüche sprengen fast die Akustik
Der Bariton Matthias Goerne hat dagegen Anlaufschwierigkeiten. Platziert am tiefsten Punkt der Bühne gleich neben dem Dirigentenpult, dringt seine Stimme gerade in der Tiefe anfangs nur schwer durch; dann klingt er fokussierter, ist besser zu verstehen und gestaltet die erschütternden Gedichte mit der Intensität und dem Zeitgespür, die man von ihm als Liedsänger kennt.
Die Sopranistin Irina Lungu hat die dramatische Röhre, die es braucht, um den lateinischen Anrufungen Brittens schneidenden Sarkasmus zu verleihen. Seltsamerweise wirkt sie dabei manchmal eher neutral als innerlich beteiligt.
Vor Currentzis‘ exzentrischen Bewegungen muss man mitunter die Augen verschließen, aber er ist der Steuermann auf der Reise durch das komplexe Riesenwerk. Er hält die Chöre mit dem Orchester zusammen, sorgt für scharfe Schnitte in Farbe, Stimmung und Tempo und treibt die dynamischen Unterschiede in die Extreme, von fast unhörbaren Pianissimi bis zu knatternden, blechgleißenden Tutti-Ausbrüchen, die selbst die Akustik der Elbphilharmonie beinahe sprengen. So wie ja auch der aktuelle Krieg erneut die menschliche Vorstellungskraft sprengt. Seit mehr als zwei Jahren, vor unserer Haustür.
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Ganz am Schluss weicht die Dissonanz einem milden, resignierten Dur-Akkord des Chors. Er verklingt eine gefühlte Ewigkeit lang, und noch länger währt die ergriffene Stille. Britten hat rund 2000 Menschen geeint. Seiner Botschaft kann man sich nicht entziehen. Möge sie über den Konzertsaal hinaus wirken.