Hamburg. Der irische Autor Colm Tóibín liest am 18.6 im Literaturhaus aus seinem neuen Roman „Long Island“. Ein gefühlsbetontes Meisterstück.

In diesem Roman nimmt man verwundert (oder gerade nicht) zur Kenntnis, dass Eindeutigkeit in jeder Faser ihres Daseins uneindeutig ist. Wer liebt hier wen und wie lange eigentlich noch? Wer will wie viel aufgeben, um neu anzufangen? Wer will an etwas anknüpfen, das eigentlich längst vorbei ist? Eindeutig ist: Die Menschen in „Long Island“ sind, wie die im wirklichen Leben, auf der Suche nach Liebe, nach Leidenschaft, nach einer Steigerung des Lebensgefühls. Und sie wollen die Einsamkeit hinter sich lassen, diese so essenzielle, nicht immer grauenvolle, aber manchmal drangvolle Einsamkeit.

Eindeutig sind auch die Signale, die von Jim Farrell ausgehen. Beziehungsweise von seiner amourösen Vita. Der arme Kerl ist, was die Liebe angeht, so etwas wie ein ewiger Loser. Oder um es in der Sprache der romantischen Liebe zu sagen: Er hat sein Herz einmal der Falschen geschenkt, sie brach es. Indem sie aus Enniscorthy, dem Örtchen an der Ostküste Irlands, einfach wieder verschwand, so plötzlich, wie sie aufgetaucht war.

Colm Tóibín: „Long Island“ ist die Fortsetzung des Bestsellers „Brooklyn“

Die Rede ist von Eilis Lacey, deren Geschichte des Liebesabenteuers für einen Sommer man kennt. Colm Tóibín, 1955 in Enniscorthy geboren, hat diese Geschichte vor einigen Jahren in seinem gefeierten und auch verfilmten Roman „Brooklyn“ erzählt. Er brachte das irische Dazwischen, das Schwanken zwischen neuer und alter Welt, in die Form eines Liebesromans, der nicht kitschig war, sondern wohl tatsächlich romantisch. Dasselbe gelingt ihm mit „Long Island“ nun wieder. In dieser Fortsetzung erfährt man, wie es mit der Auswanderin Eilis und dem in seiner Heimat zurückbleibenden Jim weiterging. Und was passiert, als sich die beiden 20 Jahre später wiederbegegnen.

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Dieses Wiedersehen ist der Kern des neuen Romans. Seine Liebestragödien von einst, die nun ein literarisches Comeback feiern, hat Colm Tóibín mit angemessen unterschiedlichen Lebensläufen ausgestattet. Der Pub-Besitzer Jim hatte in der Liebe auch nach Eilis kein Glück. Sein Alleinsein stört ihn aber erst genau dann – wir befinden uns übrigens in den 1970er-Jahren –, als Eilis ebermals aus Amerika nach Irland zurückkehrt. Er, der notorische Junggselle, hat gerade mit Eilis‘ bester Freundin von einst, Nancy, angebandelt. Es ist eine sittsame, strenge, klaustrophobische, religiös geprägte Zeit, in der die gesellschaftlichen Konventionen so etwas wie freie Liebe nicht kennen.

Colm  Tóibín wurde 1955 in Enniscorthy geboren.
Colm Tóibín wurde 1955 in Enniscorthy geboren. © IMAGO/Pond5 Images | IMAGO/xWireStockx

Nancy, die einen Fish&Chips-Laden betreibt, ist seit einigen Jahren Witwe. Dennoch halten Jim und sie ihre Beziehung geheim, was in der engen, von Sozialdruck geprägten Kleinstadt praktisch nur in der Abgeschiedenheit der Nacht geht. Oder bei klandestinen Ausflügen nach Dublin. Colm Tóibín wird stets für die Einfühlsamkeit gelobt, mit der er Menschen und ihre Gefühle beschreibt. Zu Recht – verblüffend ist aber vor allem, mit welchem Selbstverständnis, welcher Gelassenheit er sich immer wieder als Meister der Einfachheit erweist. Im Grunde hat der Plot von „Long Island“ feinstes Groschenheft-Format.

Neuer Roman „Long Island“: Das Menschliche ist allgemein

Tóibín erzählt aber seine barrierelose, Herz und Bauch unmittelbar ansprechende Geschichte über das Verlangen, der Liebe zu entkommen und gleichzeitig nicht, auf auch in ästhetischer Hinsicht überzeugende Weise. Wer sich auf jemand anderen einlässt, muss manchmal jemand anderen ganz loslassen, und sei es der seit Längerem tote Ehemann. Wer „Long Island“ liest und sich auf die Protagonistinnen und Protagonisten einlässt, kann eigentlich niemals wieder einsam sein, wo doch auch das Zerrissensein so nachvollziehbar ist: Das Menschliche ist allgemein.

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Auch der Ehebruch gehört dazu. Eilis entschloss sich nicht wegen des 80. Geburtstags ihrer Mutter (und nicht wegen der Erinnerung an die alte Liebe), nach Enniscorthy zu reisen, sondern weil ihr Mann Tony Fiorello sie zu Hause in New York nicht nur betrogen, sondern dabei sogar ein Kind gezeugt hat. Das soll, mit ihrem Segen, tatsächlich in der italoamerikanischen Familie aufwachsen. Eilis sagt klar, dass das mit ihr nicht zu machen ist, und was soll man anderes tun, als sich auf ihre Seite zu schlagen. Aber selbst für den angesichts der Abreise der Frau nach Übersee von Verlustängsten – ob sie in Irland bleibt? – geplagten Ehemann bringt man Sympathie auf. Der Roman offenbart die Verletzlichkeit von Menschen.

Colm Tóibín stellt seinen Roman im Literaturhaus Hamburg vor

Dass er das in Irland tut, dem Land herber Schönheit, dem gerade Deutsche immer schon – man denke an Heinrich Bölls „Irisches Tagebuch“ – sehnsuchtsvoll verfallen waren, steigert den Effekt. Als Jim und Eilis sich erstmals wieder in die Augen blicken, hat sie gerade ein Bad im Meer genommen, das an der irischen Küste eher einen keltischen Charme entfaltet. Pub-Folklore lässt Tóibín auch in diesen Roman fließen, der dramaturgisch mit ruhiger Hand inszeniert auf ein dramatisches Finale zusteuert.

Diesmal ist Jim derjenige, der sich entscheiden muss, der bedauernswerte Mann, der von allen Auftretenden hier doch eigentlich am ungebundensten ist. Sein neues Leben könnte in Amerika spielen, und während er darauf wartet, in welche Richtung die Gefühle Eilis‘ kippen, ist er selbst stark im Wanken begriffen.

Man will nie etwas ganz eindeutig, und manchmal entscheiden dann andere für einen. Wer diesen Sommer einen gefühlsbetonten Pageturner lesen will, dem sei „Long Island“ empfohlen.

Colm Tóibín stellt seinen neuen Roman am 18. Juni (19.30 Uhr) im Literaturhaus vor. Karten: literaturhaus-hamburg.de

Das Buchcover von Colm Tóibíns „Long Island“, Übers. v. Giovanni und Ditte Bandini. Hanser-Verlag. 316 S., 26 Euro
Das Buchcover von Colm Tóibíns „Long Island“, Übers. v. Giovanni und Ditte Bandini. Hanser-Verlag. 316 S., 26 Euro © Hanser | Hanser