Hamburg. „Watch! Watch! Watch!“ heißt die große Retrospektive über Henri Cartier-Bresson mit ikonischen Bildern und unbekannten Serien.

Gleich bei einem der ersten Schwarz-Weiß-Bilder im Entree zur Ausstellung macht es beim Betrachten „klick“: Ein Mann in Anzug und mit Hut springt über eine Wasserlache, in der sich seine dunkle Silhouette spiegelt. Die Szenerie um ihn herum ist trübe, Steinbrocken liegen auf dem Boden, hinter einem Zaun ist schemenhaft ein Bahnhofsgebäude zu erkennen.

Es ist eins der berühmtesten Bilder, die Henri Cartier-Bresson gemacht hat: „Hinter dem Gare Saint-Lazare“, aufgenommen 1932 am Pariser Place de l‘Europe.

Das berühmte Paris-Bild „Hinter dem Gare Saint-Lazare“ (1932) von Henri Cartier-Bresson wird in Hamburg gezeigt.
Das berühmte Paris-Bild „Hinter dem Gare Saint-Lazare“ (1932) von Henri Cartier-Bresson wird in Hamburg gezeigt. © Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos | Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

Es ist nur eine von 240 Fotografien dieses Ausnahmekünstlers, die das Bucerius Kunst Forum mit „Watch! Watch! Watch!“, der ersten Retrospektive in Deutschland seit 20 Jahren, zeigt. 1908 geboren und 2004 im Alter von fast 96 Jahren gestorben, erlebte der Franzose als Zeitzeuge das gesamte 20. Jahrhundert und wurde zu dessen fotografischem Chronisten. Cartier-Bresson dokumentierte zahlreiche historische und politische Ereignisse, etwa die Krönung des britischen Königs George VI. in London 1937, die Befreiung von Paris 1944, Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die Beisetzung Gandhis sowie Russland nach Stalins Tod 1954.

Ausstellung Hamburg: Bucerius Kunst Forum zeigt wichtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts

Doch waren diese geschichtlichen Höhepunkte für den Gründer der renommierten Fotoagentur Magnum meist nur der Anlass, um die daran beteiligten Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. So lichtete er eine Arbeiterin, die ihre Handtasche auf dem Kopf balanciert, vor den Hochhäusern einer französischen Trabantenstadt ab, begleitete sogenannte Displaced Persons im Auffanglager in Dessau, die von Kopf bis Fuß mit Desinfektionsmittel eingesprüht wurden, fotografierte Kinder, die an der Grenzmauer im geteilten Berlin spielten, oder porträtierte geflüchtete Frauen in einer riesigen Zeltstadt nahe Delhi.

1948 fotografierte Cartier-Bresson Geflüchtete in Srinagar, Kaschmir (Indien).
1948 fotografierte Cartier-Bresson Geflüchtete in Srinagar, Kaschmir (Indien). © Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos | Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

„Das Leben auf frischer Tat ertappen“, so hat es Cartier-Bresson selbst einmal sehr treffend formuliert. Dabei drückte er nicht wahllos und spontan ab, sondern wartete auf den entscheidenden Moment, beobachtete und komponierte seine Bilder mit präzisem Augenmaß, oftmals mit längerem Vorlauf.

Welch große Rolle Geometrie und der Goldene Schnitt dabei spielen, hatte er schon als 18-Jähriger in der privaten Akademie des spätkubistischen Künstlers André Lhote in Paris erlernt. Als wichtigste „Bibel für Fotografen“ gilt bis heute sein Buch „The Decisive Moment“. Es erscheint in Neuauflage am 25. Juli.

Originale Vintage-Drucke stammen aus der Pariser Fondation Cartier

„Diese bildnerische Kunstfertigkeit ist es, die uns durch seine Bilder so anspricht“, sagt Kathrin Baumstark, Direktorin des Ausstellungshauses. „Henri Cartier-Bresson war der größte Fotograf des 20. Jahrhunderts; an ihm haben sich viele Zeitgenossen und quasi alle nachfolgenden Fotografinnen und Fotografen abgearbeitet.“ Doch nicht nur wegen dieser Bedeutung sei sie sehr glücklich, diese Ausstellung zu zeigen.

1957 gelang dem Fotografen diese poetische Momentaufnahme in Washington. Man beachte die geometrische Bildkomposition.
1957 gelang dem Fotografen diese poetische Momentaufnahme in Washington. Man beachte die geometrische Bildkomposition. © Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos | Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

„Ich wollte ihn als Fotografen mit Haltung präsentieren. Humanismus ist ein Begriff, den ich am meisten mit ihm verbinde. Ihm lagen die Menschen und die Schicksale dieser Menschen am Herzen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Wahlen, die zeigen, dass es doch wieder möglich ist, dass rechte und faschistische Kräfte an die Macht kommen, können wir die Menschenliebe, die gerade verloren geht, in seinen Fotografien wiederfinden.“

Henri Cartier-Bresson war Anfang der 1950er-Jahre auch in Hamburg

Die Idee zur Ausstellung lieferte ihr Kollege Ulrich Pohlmann. Der Münchner Kurator hatte auf die Frage, welche Ausstellung er sich am meisten zum Ende seiner beruflichen Laufbahn noch wünschen würde, mit „Cartier-Bresson“ geantwortet. Das „Buci“ schlug sofort ein.

Und so verbrachte Pohlmann mehrere Monate in der Fondation Cartier in Paris, die noch zu Lebzeiten des Fotografen gegründet worden war und alleinige Leihgeberin der originalen Vintage-Drucke ist, und wählte die Bilder für Hamburg aus, darunter sowohl ikonische Werke als auch bislang unbekannte Serien.

Ungewöhnliche Perspektiven waren bei Cartier-Bresson an der Tagesordnung: hier eine Zuschauerin bei der Krönung George des VI. in London 1937.
Ungewöhnliche Perspektiven waren bei Cartier-Bresson an der Tagesordnung: hier eine Zuschauerin bei der Krönung George des VI. in London 1937. © Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos | Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

So sind zum Beispiel auch Bilder aus Hamburg dabei. 1952/53 verbrachte der Fotograf hier mehrere Wochen, um den Wiederaufbau in der zerstörten Stadt zu dokumentieren. Ihn interessierten die Spuren des Krieges, die man an zerbombten Häusern und Bunkern oder an den provisorischen „Nissenhütten“, die Tausenden Wohnungslosen Unterkunft boten, nachvollziehen konnte.

Aber auch das wiederaufgenommene Leben auf den Straßen hielt er fest: Passanten vor dem imposanten Bismarck-Denkmal oder am Hafen. Veröffentlicht wurden diese Bilder im US-Magazin „Fortune“ unter dem Titel „The New York of West Germany“.

Die klassische Bilderschau ist wie ein Labyrinth aufgebaut

Henri Cartier-Bresson war sehr gut in der künstlerischen Szene vernetzt; davon zeugen besondere Porträts von Coco Chanel, Simone de Beauvoir, Henri Matisse oder Truman Capote. Zur selben Zeit war er in der kommunistischen Bewegung aktiv und engagierte sich nach seiner Zeit in deutscher Kriegsgefangenschaft im Widerstand gegen den Nationalsozialismus; sein Hauptinteresse galt stets sozial ausgegrenzten Menschen. Als politischen Fotografen hat sich Cartier-Bresson dennoch nie gesehen: „Ich habe weder eine ‚Botschaft‘ noch eine ‚Mission‘. Ich habe einen Standpunkt.“

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Bei 240 Bildern könnte man leicht überfordert sein, und tatsächlich ist die mit abwechselnd weißen, grauen und schwarzen Wänden sehr zurückhaltend gestaltete Ausstellung verschachtelt wie ein Labyrinth: An jeder Ecke tun sich neue Blickachsen auf, wird ein neues Kapitel aufgeschlagen im Werk des Künstlers (der sich übrigens immer als Handwerker verstand: „Ich hasse meine Prominenz“).

Dass „Watch! Watch! Watch!“ eine ganz klassische Bilderschau ist, die nur zwei Filmstationen und ein Periskop mit bewegten Bildern von der königlichen Krönung bietet, ist zwar in der heutigen, von multimedialen und immersiven Inhalten geprägten Zeit ungewöhnlich, aber kein Manko. Im Gegenteil: Sie fordert zur Konzentration darauf auf, was auch dem Fotografen am wichtigsten war: das Sehen.

„Watch! Watch! Watch! Henri Cartier-Bresson“ 15.6.–22.9., Bucerius Kunst Forum (U/S Jungfernstieg), täglich 11.00–19.00, Do 11.00–21.00, Eintritt 12,-/6,- (erm.); www.buceriuskunstforum.de. Am 7. Juli um 10 Uhr gibt es eine exklusive Abendblatt-Leserveranstaltung vor Öffnung des Museums. Tickets: 19,- statt 23,- (inkl. Eintritt, exklusiver Führung, Plakat der Ausstellung). Ab 18.6. erhältlich auf www.abendblatt.de/leserevents oder in der Hamburger Abendblatt Geschäftsstelle. Bei Interesse bitte jetzt schon anmelden unter leserevents-abendblatt@funkemedien.de.