Hamburg. Der Schauspieler rezitiert, artikuliert und singt in der ausverkauften Laeiszhalle. Das Thema ist Bertolt Brechts „Hauspostille“.

Lars Eidinger gibt den Prediger: „Wach auf, du verrotteter Christ. Mach dich an dein sündiges Leben“, stimmt er sanft die Zeilen des Morgenchorals des Peachum an. Im Oversize-Anzug, steht er da, die Haare liegen ihm in halber Länge auf den Schultern.

Das Textbuch in der Hand blickt er durch goldgeränderte Brillengläser. Hinter ihm ein leuchtend grünes Transparent, wie eine Leinwand, auf der sich gleich eine Aktion abspielen könnte. Das geschieht aber nicht. Eidinger spielt nicht, er spricht, rezitiert, artikuliert und singt bei seinem – nachgeholten – Auftritt in der ausverkauften Laeiszhalle. Thema ist Bertolt Brechts Gedichtsammlung „Hauspostille“.

Lars Eidinger in Hamburg: Musikalische Lesung mit präziser Brecht-Aura

Die Gedichte, eine parodistische Anspielung auf fromme Predigtsammlungen, entstanden in den Jahren 1916 bis 1925. Vieles davon ist sehr düstere Poesie über Abgründiges und Gewalttätiges. Manches ist auch politisch. Etwa das doch von einiger Arbeiter-Romantik durchzogene „Lob des Kommunismus“: „Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen. Aber wir wissen, er ist das Ende der Verbrechen. Er ist keine Tollheit, sondern das Ende der Tollheit.“

In der „Hauspostille“ beschreibt der junge, wilde Brecht die Ränder des sogenannten „Asozialen“. Er feiert die Verdammten, säuft mit den Verlorenen. Und das in sehr morbiden Worten: Männer bringen ihre Eltern um. Verführte Mädchen ertrinken „In den seichten, braun versumpften Teichen“. Der „Hauspostille“ vorangestellt ist eine „Anleitung zum Gebrauch“, Tenor: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Mit der Ballade über die Frage: „Wovon lebt der Mensch“ flicht Lars Eidinger zu ein paar Takten dramatischer Orgel auch eine von mehreren sehr populären Anspielungen an „Die Dreigroschenoper“ von Brecht/Weill mit hinein.

Eidinger trägt nicht bloß vor – er hat die Poesie verinnerlicht

2018 hatte Lars Eidinger den Dramatiker, Librettist und Lyriker bereits in Joachim A. Langs Film „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ dargestellt. Seitdem war es ihm eine Herzenssache, diese Gedichte zu interpretieren. Und Eidinger trägt sie ja nicht bloß vor, er hat die Poesie verinnerlicht, inkorporiert geradezu und entäußert mit ihr auch die eigene Kunstfigur mit der ihm eigenen Ambivalenz, oder um es mit Brecht zu sagen, mit einer gewissen Dialektik.

Neben ihm agiert der Pianist Hans-Jörn Brandenburg an Harmonium und Klavier. Auch in der Musik begeben sich die Besucher auf eine Zeitreise, einhundert Jahre zurück – wobei vieles erschreckend zeitlos klingt. Brandenburg ist Eidinger ein ebenbürtiger Kunstkomplize, komponierte er doch bereits Bühnenmusik unter anderem für Frank Castorf, George Tabori und Robert Wilson. An diesem Abend kreiert er einen sprachlich-musikalischen Dialog, in dem er das Gesagte mal mit ein paar Akkorden verdoppelt, mal konterkariert. Zwischendurch geht er auch eigene Wege, reißt ein paar Melodien an, mischt sie unter anderem mit der Beatles-Hymne „Fool On The Hill“ und sogar mit ein paar Takten von John Lennons „Imagine“.

Lars Eidinger in der Laeiszhalle: Reine Poesie wechselt mit Gesang ab

Reine Poesie wechselt mit Gesang, etwa beim „Lied eines kleinen Abwaschmädchens in einer Vier-Penny-Kneipe, genannt Jenny, die Seeräuberbraut“, dessen Refrain Eidinger zu expressiven Pianoklängen mit hoher Stimme präsentiert. Ein Beispiel für den zwar immer etwas hölzernen, aber doch sprachspiel- und wortwitzverliebten Brecht ist „Ortes Wunschliste“. Und die geht unter anderem so: „Von den Geschichten, die unverständlichen. Von den Ratschlägen, die unverwendlichen. Von den Mädchen, die neuen. Von den Weibern, die ungetreuen.“

Laster aller Art, Frauen, Armut, Überlebenskampf, Alkoholmissbrauch, sind Brechts bevorzugte Themen, die in einem drastischen Kontrast zu dem hohen Prediger-Ton stehen. Sie werden dadurch aber keineswegs ironisiert. Eidinger und Brandenburg nehmen die Texte bierernst.

Lars Eidinger liest Brecht: Manche Sätze klingen wie die Vorlage für einen Punk-Song

Apropos Alkohol. Manche Sätze klingen wie die Vorlage für einen Punk-Song. Es ist schließlich kein Zufall, dass etwa der „Alabama Song“, vertont von Kurt Weill, der auch in der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ Verwendung fand, von Popgrößen wie The Doors und David Bowie angeeignet wurde. Darin geht es – natürlich – um den Weg zur nächsten Whisky-Bar.

Eidinger spricht zwischen den Darbietungen kaum. Nachdem am Anfang zunächst niemand gewagt hatte zu applaudieren, folgen die Ovationen jetzt in schöner Regelmäßigkeit. Nach dem morbiden „Apfelböck oder die Lilie auf dem Feld“, in dem ein Mann seine Eltern ermordet und in den Wäscheschrank sperrt, sagt Eidinger „Ich finde auch, es ist einen Applaus wert, wenn man seine Eltern umbringt“, und das klingt dann doch mindestens ein wenig divenhaft.

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Höhepunkt des mit knapp über einer Stunde doch recht kurzen Abends wird „Der Choral vom großen Baal“. Ein eindringlich gebotener Text von einem, der zerrissen ist am Leben, an sich selbst und an der Zeit. Am Ende war es eine außergewöhnliche musikalische Lesung mit sehr präziser, ungekünstelter Brecht-Aura.