Hamburg. Das MARKK blickt kritisch auf die Rohstoffausbeutung in der Atacama-Wüste, die bis heute andauert. Hamburg spielt keine angenehme Rolle.

Die signifikante Bugspitze des Chilehauses ragt auf dem gelben Ausstellungsplakat an der Fassade des MARKK empor. Darunter sieht man drei Männer mit freien Oberkörpern in einer Grube, einer von ihnen mit einer Schaufel am Boden zugange. Es sind Bilder aus völlig verschiedenen Welten: Das Chilehaus ist eines von Hamburgs berühmtesten Gebäuden. Die Männer sind in Chile so etwas wie Nationalhelden, eine Verkörperung absoluter Männlichkeit und Stärke.

Und doch teilen sie eine Geschichte, denn die Männer waren Arbeiter im Salpeterwerk des Hamburger Unternehmers Henry Braren Sloman (1848–1931) in der nordchilenischen Atacama-Wüste. Durch das „weiße Wüstengold“ wurde er zum reichsten Mann der Stadt, ließ das Chilehaus, das deswegen seinen Namen trägt, zwischen 1922 und 1924 vom Architekten Fritz Höger bauen. Über das Schicksal dieser und vieler anderer Arbeiter war bislang kaum etwas bekannt. Jetzt macht sich eine Ausstellung daran, dies zu ändern.

Das von Fritz Höger von 1922 bis 1924 gebaute Chilehaus ist eines der imposantesten Gebäude der Stadt – aber mit belasteter Geschichte.
Das von Fritz Höger von 1922 bis 1924 gebaute Chilehaus ist eines der imposantesten Gebäude der Stadt – aber mit belasteter Geschichte. © Privatarchiv Henry B. Sloman | Privatarchiv Henry B. Sloman

Ausstellung: Wie sich Hamburger „Salpeterbarone“ in Chile bereicherten

„Weißes Wüstengold. Chile-Salpeter und Hamburg“ lenkt den Blick auf eine der heißesten und trockensten Regionen der Erde, wo ab Mitte des 19. Jahrhunderts mittels Sprengung zunächst der natürliche Rohstoff Caliche gewonnen und daraus Salpeter industriell hergestellt wurde. In großen, mit Wasserdampf beheizten Wannen wurde der Salpeter ausgekocht. Anschließend mussten Arbeiter den übrig gebliebenen Abraum aus den heißen Wannen schaufeln. Die Salzbrocken wurden anschließend in Säcke verpackt und auf Eisenbahnen verladen für den Schiffstransport.

Salpeter war extrem nachgefragt: als Dünger, Sprengstoff, zur Farbgewinnung und für Schießpulver. Unternehmer vor allem aus London und Hamburg waren es, die darin ihre Chance witterten und im kaum vom Staat kontrollierten Niemandsland fernab von Städten riesige Werke mit Schienennetz, Staudämmen und eigener Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäusern und Friedhöfen gründeten. Allen voran Henry B. Sloman und Hermann C. J. Fölsch, die „Salpeterbarone“.

Menschen litten unter prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen

Und auch Chilenen aus dem Süden sowie Menschen aus den Nachbarländern Peru und Bolivien erhofften sich dadurch sichere Arbeit und gute Verdienste. In der Ausstellung zeugen nur wenige Schwarz-Weiß-Fotografien von ihrer Existenz: Lediglich eine aufrecht stehende Arbeiterkolonne in sauberer Kleidung oder Männer in Anzügen beim Einkauf in der Pulperia, dem Werksladen, sind zu sehen. Es sind teils repräsentative, teils private Bilder aus den Archiven der Unternehmer oder den leitenden europäischen Angestellten.

„Ich wollte wissen, was hinter diesen Fotografien steckt“, sagt Kuratorin Christine Chávez, die für die Ausstellung die Südamerika-Sammlung des Museums durchforstete, in Chile recherchierte, mit Nachfahren, Historikerinnen, Anthropologen und Künstlerinnen sprach. „Es zeigte sich ein anderes Bild, nämlich, dass die Menschen in den Officinas unter größtenteils prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen litten.“ Tags schufteten die Arbeiter bei bis zu 40 Grad ohne jegliche Schutzvorkehrungen, nachts froren sie in einfachen Wellblechhütten bei bis zu minus 20 Grad, dabei in völlig überfüllten Räumen und bei mangelnder Hygiene.

Ausbeutung und Umweltzerstörung „kein Phänomen der Vergangenheit“

Die meisten Arbeiter waren männlich, aber es gab auch Frauen, die zum Beispiel in der Wäscherei oder in der Buchhaltung tätig waren, Kinder „durften“ ab acht Jahren mitarbeiten. Ihre Löhne erhielten alle in einer werkseigenen Währung, der Fichas. Da sämtliche Waren, teils auch das Trinkwasser, importiert werden mussten und ausschließlich in den Werksläden verkauft wurden, flossen ihre Verdienste wieder in die Taschen der Unternehmer. Ein friedlicher Protest, zu dem sich zahlreiche Arbeiter am 21. Dezember 1907 in der Hafenstadt Iquique versammelt hatten, wurde vom Militär blutig niedergeschlagen. Dabei sollen mehrere Tausend Menschen erschossen worden seien.

Tom Heger fotografierte riesige Verdunstungsbecken in Chile, die zur Gewinnung von Lithium verwendet werden.
Tom Heger fotografierte riesige Verdunstungsbecken in Chile, die zur Gewinnung von Lithium verwendet werden. © Tom Hegen | Tom Hegen

Dass die Ausbeutung von Menschen und die Zerstörung der Umwelt „kein Phänomen der Vergangenheit ist“, so Kuratorin Chávez, zeigt das letzte Kapitel der Ausstellung, in der es um die heutige Lithium-Gewinnung in Chile für den Bau von Smartphones und Batterien für Elektroautos geht. Auf Tom Hegens Fotografie „Salar de Atacama, Chile“ von 2015 sind riesige Verdunstungsbecken zu sehen, in die unterirdisches Salzwasser in großen Mengen gepumpt wird. Je nach Salzgehalt leuchten sie gelb, grün und blau, was eine absurd-schöne Ästhetik erzeugt.

Autorin und Musikerin Irmelin Sloman nimmt ihren Urgroßvater in Schutz

Irmelin Sloman, Urenkelin des Hamburger Salpeterunternehmers, war bei der Ausstellungseröffnung zu Gast und tief berührt und irritiert von ihrer Familiengeschichte. Sie war erst vor drei Jahren auf das verschollene Archiv gestoßen, das sie in rund 150 ungeöffneten Pappkartons in einer Scheune fand, darin unzählige Fotografien und Negative, aber auch Berichte ihres Urgroßvaters. „Er stammte aus armen Verhältnissen, arbeitete zunächst als Schlosser in Peru, bevor er bei der Firma Fölsch & Martin anheuerte. Als er sich entschloss, eigene Salpeterwerke aufzubauen, waren ihm die Bedingungen für die Arbeiter wichtig“, betont sie. So hätte Henry B. Sloman dafür gesorgt, dass katholische Kirchen errichtet werden, es Musik, Tanzunterricht und Ausflüge für die Familien zu nahe gelegenen Flüssen gibt.

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Viele der Fotos hat Irmelin Sloman für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Sie selbst ist nach Chile gereist, um mit den Menschen vor Ort zu sprechen. „Meine Familie sagt, dass ich seit drei Jahren im Chile von 1905 lebe.“ Ihre Eindrücke und viele Dokumente ihres historischen Familienschatzes hat sie zu einem Buch verarbeitet. „Die Chile-Saga“ soll im Juni im Koehler Verlag erscheinen. Im Rahmen der Ausstellung „Unbequeme Erinnerungen“ ab 5. Juni im Deutschen Hafenmuseum, die die Verschiffung des Chile-Salpeters thematisiert, wird die Autorin und Musikerin einen Bilderabend veranstalten und damit das 100. Jubiläum des Chilehauses feiern.

Man wird nach dem Ausstellungsbesuch im MARKK auf jeden Fall anders auf dieses imposante Gebäude blicken.

„Weißes Wüstengold. Chile-Salpeter und Hamburg“ bis 26.1.2025, MARKK (U Hallerstraße), Rothenbaumchaussee 64, Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–21.00, Eintritt 9,50/5,- (erm.); www.markk-hamburg.de