Hamburg. Eben noch in Berlin, jetzt in Hamburg zu Gast: viel Jubel für den Stardirigenten, die Mezzosopranistin und ihre konzertante „Médée“.
Als Magdalena Kožená im blutroten Kleid auf die Bühne der Elbphilharmonie kommt, lässt das schon ahnen: Die Sache wird nicht gut ausgehen. Die tschechische Mezzosopranistin singt die Titelrolle in der Oper „Médée“ von Marc-Antoine Charpentier. Einen Abend lang wird sie das Publikum in ihren Bann schlagen mit ihrer Präsenz, ihrer Gestaltung, ihrem Timbre.
Der französische Barockkomponist (ja, das ist der mit der Eurovisionshymne) hat auf der Grundlage eines Textes von Thomas Corneille den Medea-Mythos vertont. Die Königstochter hat ihrem Geliebten Jason geholfen, ihrem Vater das berühmte Goldene Vlies zu rauben, ist in Ungnade gefallen und mit Jason ins ferne Korinth geflohen. Und was tut der Undankbare? Wendet sich einer anderen zu. So etwas lässt eine Frau vom Temperament Medeas nicht auf sich sitzen.
Simon Rattle in der Elbphilharmonie: Betriebsausflug der besonderen Art
Und eine Frau vom Format Koženás erst recht nicht. Die Tonsprache Charpentiers, die so nah am gesprochenen Französisch ist, klingt bei ihr vollendet natürlich. Sie kann die Töne schnurgerade ansetzen und dann allmählich aufblühen lassen, aber sie hat auch das ganz Dramatische parat. Kožená gelingt ein hochdifferenziertes Rollenporträt dieser Heimatlosen, Gedemütigten, die sich so furchtbar rächen wird.
Nur zwei Tage vorher hatte das Stück unter der Regie von Peter Sellars Premiere an der Berliner Staatsoper, nun sind der Dirigent Simon Rattle, eine exquisite Riege von Sängerinnen und Sängern, der Staatsopernchor und das Freiburger Barockorchester für einen Betriebsausflug der besonderen Art nach Hamburg gekommen und führen eine konzertante Fassung auf.
Elbphilharmonie: Keine der Singstimmen möchte man verpassen
Aber was heißt hier konzertant? Was die französische Barockoper an Prachtentfaltung zu bieten hat, samt Balletteinlagen, viel Maschinerie und Zauberei, das ist in Hamburg zwar nicht zu sehen, aber zu hören. Rattle hat den Protagonisten ein höhergelegenes Podium zwischen Orchester und dem Staatsopernchor Berlin freigeräumt. So dringen die Singstimmen mühelos durch. Keine von ihnen möchte man verpassen. Nicht die zauberhaften Phrasierungen des Tenors Reinoud Van Mechelen, die ein Stinkstiefel wie Jason eigentlich gar nicht verdient hat. Und nicht den wandelbaren Bariton von Gyula Orendt als gehörntem Oronte.
Aus Charpentiers Musik geht das Grauenhafte an dem Stoff durchaus nicht immer hervor (und aus der Zusammenfassung im Programmheft leider auch nicht). Französischer Barock ist das Gegenteil expliziten Ausbuchstabierens. Die Musik tut dem höfischen Comment Genüge, und die Sänger beweisen ihr Stilverständnis, indem sie die Musik auch so interpretieren. Sie drängen die Empfindungen nicht auf, sondern erlauben seelische Einblicke. Wer sich darauf einlässt, dem zerreißt es das Herz.
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Von einer so üppigen Orchesterbesetzung hätte etwa ein Antonio Vivaldi nur träumen können. Charpentier nutzt sie für einen betörenden Farben- und Stimmungsreichtum. In „Médée“ musizieren ganze fünf Blockflöten in unterschiedlichen Größen, Pauken, Trommeln, Tamburin und Glocken, eine Trompete. Nach dem Klangbild der Streicher könnte man süchtig werden, so dunkel und warm ist es dank der tiefen Stimmung und dank der Besetzung mit reichlich Bratschen, die Mehrheit davon so riesig, dass sie einem kleinen Cello nahekommen. Und vor allem hört man in diesem obertonreichen, kohärenten Klang die innere Beteiligung. Das Freiburger Barockorchester ist kein Telefonorchester, es hat eine Geschichte.
Das Publikum lässt sich spürbar ergreifen. Was ist eigentlich das schönere Echo – der Jubel am Schluss oder die gespannte Aufmerksamkeit des Zuhörens? An diesem Abend gibt es beides.