Hamburg. Der Engelsaal steckt in beispielloser Krise und ist nach außen führungslos. Neue Hiobsbotschaft für Termine im Mai. Was Besucher wissen müssen.

Den Auftakt bildete ein Gassenhauer aus den 1930er-Jahren: „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“. Damit eröffnete der Tenor und Schauspieler Karl-Heinz Wellerdiek im Frühjahr 2005 den Hamburger Engelsaal. Es ist ein Lied aus dem Film „Sieben Ohrfeigen“. Nicht nur die, auch Nacken- und Rückschläge hat das kleine Privattheater in der Neustadt im Laufe der vergangenen 19 Jahre einige verkraften müssen, den größten mit dem tragischen Tod seines Gründers und Prinzipals Wellerdiek im Alter von nur 59 Jahren Anfang 2019.

Doch was sich in diesem Frühling auftut, ist für die treuen Freunde der leichten Muse und Liebhaber von Operette und Musical-Klassikern ein herber Tiefschlag. Der Hamburger Engelsaal steht als ältestes Privattheater der Hansestadt (1809 als Theater im Engelsaal eröffnet) mit seinen getreu rekonstruierten Räumen zwar unter Denkmalschutz, steckt nach mehr als zwei Jahrhunderten jedoch tief in der Krise, personell und offenbar auch finanziell. Und nach außen fühlt sich niemand zuständig.

Hamburger Engelsaal: Kulturbehörde „in großer Sorge“ um das Privattheater

Am Mittwochmittag wurde erstmals seit Wochen die Startseite des Internet-Auftritts des Engelsaals aktualisiert. „Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Engelsaal für die Künstler unerwartet in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten ist, sodass die geplanten Vorstellungen bis auf Weiteres abgesagt werden müssen“, heißt es dort. „Wir bedauern diese Situation außerordentlich und hoffen auf eine rasche Klärung, sodass wir mit unserem Publikum möglichst bald wieder schöne und leidenschaftliche Stunden im Theater verbringen können. Bleiben Sie uns bitte gewogen!“ Unterzeichnet sind die Sätze mit „Ihre Künstler und Ihr Team vom Engelsaal“.

Dennoch gleicht das Ganze längst einem Theater-Krimi, wenn auch ohne Bühne und Drehbuch. Wer am Valentinskamp 40 durchs Treppenhaus mit älteren Schwarz-Weiß-Fotos von Opern- und Musicalstars wie José Carreras, Nadja Tiller, Anna Maria Kaufmann und Daniela Ziegler an der Wand im ersten Stock ankommt, gelangt ins verwaiste Foyer. Dort stecken zwar noch Sommerprogramme mit Veranstaltungen bis Juli im Halfter, doch es herrscht Ruhe wie auf einem Geisterschiff. Die letzte Vorstellung, die im Theatersaal regulär über die Bühne ging, fand nach Abendblatt-Recherchen am 19. April statt: „Die große Heinz Erhardt Show“.

Hamburger Engelsaal: Alle für Mai geplanten Veranstaltungen sind auf der Website getilgt

Seitdem ist die Doppeltür zum Saal mit den 130 Sitzplätzen verschlossen. Zettel an der Eingangstür im Erdgeschoss und vor dem Theatersaal im ersten Stock weisen auf Absagen der Vorstellungen vom 3. bis 5. Mai hin, verbunden mit dem etwas kryptischen Verweis auf „Umstände, die nicht beeinflussbar sind“. Am vergangenen Wochenende wurde auf den maschinell erstellten Zetteln per Kugelschreiber hinzugefügt, „dass alle Termine im Mai nicht stattfinden“.

Der Hamburger Engelsaal am Valentinskamp hat 130 Sitzplätze, wenn er geöffnet ist.
Der Hamburger Engelsaal am Valentinskamp hat 130 Sitzplätze, wenn er geöffnet ist. © Hamburger Engelsaal/ Oliver Heinemann | Hamburger Engelsaal/ Oliver Heinemann

Inzwischen sind sämtliche für diesen Monat geplante Veranstaltungen vom Spielplan auf der Website des Theaters getilgt. Noch am 28. April aber hatte Abendblatt-Leser Günther Voigt mit seiner Frau Heide und zwei Freunden mit ihren für jeweils 50,69 Euro via Eventim gekauften Karten inmitten von rund 50 weiteren Gästen im Foyer vor der verschlossenen Saaltür gestanden. Die Vorstellung von „Operette sich wer kann“ fiel ohne Angabe von Gründen aus, Vertreter des Engelsaals waren nicht zugegen. So etwas hatten Voigt und seine Frau, seit fast 70 Jahren regelmäßige Theater- und Konzertgänger, bis dahin noch nicht erlebt.

Mehrmals haben der Pensionär und seine Frau an den Ticketvermittler geschrieben. Am Mittwoch erhielten die Voigts von Eventim nun folgende Nachricht: „Der Veranstalter hat uns mitgeteilt, dass dein Event abgesagt wurde. Wir wurden als Ticketvermittler mit der Rückabwicklung der Tickets beauftragt.“ Letzteres ist ein normales Prozedere, alles andere bis heute mysteriös, wenn nicht unseriös.

Büro des Engelsaals seit mehr als zwei Wochen nicht mehr erreichbar, Telefon abgeschaltet

Bei den Recherchen im Engelsaal und in seinem Umfeld stieß das Abendblatt weitgehend auf eine Mauer des Schweigens. Dennoch sickerte längst durch, dass einigen der freischaffenden Engelsaal-Künstlerinnen und -Künstlern noch Gagen zustanden, weshalb Vorstellungen ausgefallen sind.

Fest steht: Das Büro der Hamburger Engelsaal GmbH ist seit mehr als zwei Wochen nicht mehr erreichbar, das Telefon abgeschaltet, auf E-Mail-Anfrage gibt es keine Antworten. Laut Eintragung im Handelsregister des Amtsgerichts Hamburg vom 7. Februar dieses Jahres hat die frühere Mitarbeiterin und langjährige Wellerdiek-Assistentin Malgorzata Lingoth seitdem keine Prokura mehr. Sie ist ebenso aus dem Unternehmen ausgeschieden wie der Mitarbeiter Christoph Baldermann. Der langjährige Technische Leiter und Teamleiter des Service- und Gastronomie-Bereichs hat gekündigt und ist laut Netzwerk Xing „offen für Projekte“. Logisch, dass sich so am Valentinskamp kein Theaterbetrieb mehr gewährleisten lässt.

Kurios ist auch der Gegenstand der Hamburger Engelsaal GmbH: „Der Früchte- und Gemüse-Groß- und Einzelhandel sowie mobiler und stationärer Handel und Verkauf mit Waren aller Art und der mobile und stationäre Verkauf von Speisen und Getränken und darüber hinaus die Objektbetreuung und Gartenpflege und -gestaltung“, heißt es laut Handelsregister. Und weiter: „Gegenstand des Unternehmens ist ferner der Betrieb eines Theaters sowie die Entwicklung und der Vertrieb von Theater-, Gastspiel- und Medienproduktionen sowie der Betrieb eines Musik-, Theater- und Buchverlages.“

Hamburger Kulturbehörde: „Unsicherheit um die Zukunft der Bühne bereitet uns große Sorge“

Einzelvertretungsberechtigt mit der Befugnis, Rechtsgeschäfte abzuschließen, ist Thomas Wellerdiek (55), übrigens ein gelernter Gärtner. Der Witwer des Anfang 2019 gestorbenen Karl-Heinz ist im Handelsregister bis heute als Geschäftsführer der Hamburger Engelsaal GmbH eingetragen, die Mieter der Räume am Valentinskamp ist. Thomas Wellerdiek jedoch ward seit Wochen nicht gesehen. Kontaktaufnahme aussichtslos.

Sogar für die Hamburger Kulturbehörde. „Die Unsicherheit um die Zukunft der Bühne bereitet uns große Sorge“, teilte Behördensprecher Enno Isermann auf Abendblatt-Anfrage mit. „Nachdem der zuständige Kollege in der Kulturbehörde von den Problemen des Theaters gehört hat, versuchte er umgehend auf verschiedensten Wegen Kontakt aufzunehmen, was ihm leider bisher nicht gelungen ist“, schilderte Isermann die Bemühungen des für die Hamburger Privattheater zuständigen Referenten René Born.

Hamburger Engelsaal ist seit 2017/18 in der institutionellen Förderung

Zusätzliche Pikanterie: Der Hamburger Engelsaal ist seit der Spielzeit 2017/18 in der zweijährigen institutionellen Förderung aus dem Privattheater-Topf der Kulturbehörde. In der noch laufenden Saison erhält das Haus aus dem Fördertopf 61.000 Euro, in der Spielzeit davor war es etwas weniger. „Nach dem Tod von Karl-Heinz Wellerdiek hat der neue Geschäftsführer Thomas Wellerdiek die Anträge gestellt“, sagte Isermann. Für die kommende Spielzeit habe das Antragsverfahren noch nicht begonnen.

Doch wer sollte sich für den Hamburger Engelsaal daran beteiligen, wenn nicht Thomas Wellerdiek? Der zweite laut Website für den Engelsaal Verantwortliche, der Musikalische und zusätzlich Künstlerische Leiter Herbert Kauschka, ist seit Tagen ebenfalls nicht zu erreichen, auf Rückrufbitten reagiert er nicht.

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Karl-Heinz Wellerdiek hatte seine Nachfolge noch zu Lebzeiten geregelt, indem der Sänger und Regisseur Philip Lüsebrink neuer Intendant des Engelsaals wurde und der gefragte Theatermusiker Kauschka Musikalischer Leiter blieb. Jedoch schied Lüsebrink im Spätsommer 2020 nach nur gut anderthalb Jahren als Chef und nach fast anderthalb Jahrzehnten auch aus dem Engelsaal-Ensemble aus. Lüsebrink sprach damals von „unterschiedlichen Auffassungen der neuen Geschäftsführung über die künftige künstlerische Ausrichtung des Theaters“.

Droht Karl-Heinz Wellerdieks Lebenswerk nun womöglich die Insolvenz? Die müsste im Normalfall der jetzige Geschäftsführer beantragen. Aber was ist beim Engelsaal dieser Tage noch normal?