Hamburg. Marina Davydova inszeniert 1000 Jahre Geschichte Russlands auf beklemmende Weise. Der überfordernde Faktenreichtum ist gewollt.

Es beginnt wie ein normaler Museumsbesuch. Vergoldete Türen öffnen sich und geben Vitrinen mit Insignien des russischen Imperiums frei: Hier ist eine Ikone zu sehen, dort ein zweiköpfiger Adler. Wuchtige Tschaikowsky-Akkorde erklingen. Die Ironie in Odin Birons blechern aus dem Off schnarrender Stimme ist nicht zu überhören, wenn er vom fragwürdigen Großmachtselbstverständnis des russischen Riesenreiches erzählt, aber eben auch von Geschichtsfälschung. Gott wache über Russland, und das Land sei ausschließlich durch freiwillige Beitritte und zurückgewonnene angestammte Territorien expandiert, tönt er.

Die Kritikerin, Kuratorin, Theatermacherin – seit diesem Jahr auch Schauspielchefin der Salzburger Festspiele – Marina Davydova ist eine der scharfsinnigsten Stimmen im internationalen Theater. Ihre klare Gegnerschaft zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zwang sie aus Moskau ins Berliner Exil. Für die Wiener Festwochen entwickelte sie das „Museum der ungezählten Stimmen“, das derzeit beim Krass Festival auf Kampnagel gastiert.

„Museum der ungezählten Stimmen“ auf Kampnagel: Der Faktenreichtum ist gewollt

Es ist ein gigantisches Unterfangen, 1000 Jahre Geschichte Russlands, die Grenzverläufe der Nationalstaaten, schließlich den Zerfall der Sowjetunion im Postkommunismus bis in die Konflikte der Gegenwart nachzuvollziehen. Der überfordernde Faktenreichtum ist gewollt. Immer wieder drehen sich die Türen. Die Historie wird zum verschachtelten Labyrinth.

Bald streiten weitere Stimmen, die die Ukraine, Belarus, Armenien, Aserbaidschan und Georgien symbolisieren, aufs Temperamentvollste miteinander, während sich ihre kulturellen Eigenheiten in liebevoll mit traditionellen Trachten dekorierten Archiven betrachten lassen.

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Am Ende landet die Installation bei den Menschen und offenbart, wie das Imperium erbarmungslos über den Einzelnen hinwegrollt. Die Schauspielerin Chulpan Khamatova erzählt die Geschichte Davydovas, die als Tochter eines Armeniers und einer Russin im aserbaidschanischen Baku aufwuchs und 1990 vor den antiarmenischen Pogromen nach Moskau floh.

Eine beklemmende Geschichte von Flucht

Es ist eine beklemmende Geschichte von Flucht, Verlust von Menschen, Orten, der eigenen Identität und dem Leben in einer Dauerentwurzelung und Dauersehnsucht nach den Boulevards von Moskau – sie erzählt auch von bewundernswerter Widerstandskraft und Selbstbehauptung. Davydova gelingt es, auf kluge, fundierte und tief bewegende Weise, nicht nur ihre eigene, sondern all die ungezählten, die ungehörten Stimmen nachvollziehbar zu machen. Und es lohnt unbedingt, ihnen zuzuhören. asti

Marina Davydova: „Museum of uncounted Voices“ 13.4., 19 Uhr, 14.4., 16 und 19 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 2024, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de