Hamburg. Rund 350 Mitwirkende: Das NDR-Orchester und Semyon Bychkov mit der monumentalen 8. Sinfonie von Gustav Mahler in der Elbphilharmonie.

Unvergessen, dass im Januar 2017 vor dem Auftritt der Einstürzenden Neubauten in der Elbphilharmonie gelbe Gehörschutz-Stöpsel verteilt wurden – letztlich nur ein niedliches Späßchen, weil die Kunstkrach-Band um Blixa Bargeld so brachial dann ja doch nicht loslärmte. Ein weiterer, noch klassischerer Kracher war wenig später aber die Erstaufführung von Gustav Mahlers überriesiger Achter Sinfonie im Großen Saal, als weiterer Praxis-Stresstest für Menschen und Material und den Umgang mit der damals noch ungewohnten Akustik. Und es nützt nichts: Man kann über eine Begegnung mit diesem pausenlosen Achtzigminüter, einem Ding der gewollten und hineinkomponierten Unmöglichkeiten, nicht nur so schreiben, als wäre es die nächstbeste Normalmaß-Sinfonie mit handlichen Ambitionen und Erzählmotiven.

Seinerzeit waren es die Philharmoniker und der für Kent Nagano eingesprungene Eliahu Inbal gewesen, die mit mehr als 300 Mitwirkenden diese „Sinfonie der Tausend“gewuchtet hatten; allerdings ohne Trommelfellschutz fürs nähere Publikum. Wenn schon Überwältigung und Größenwahn, denn schon. Nun, fast genau sieben Jahre später, kam es zum Wiederbestaunen, mit dem NDR-Orchester, drei Termine, mit 212 Chorstimmen und 131 Instrumenten. Pro Konzert. Sollziel des von Mahler heftig verachteten Werbe-Etiketts rechnerisch erreicht, gewissermaßen. Übervolles Haus, die Chor-Hundertschaften auf Höhe der Orgel fast bis zur Decke gestapelt. Darüber war auch noch Platz für die Blechbläser des Fernorchesters und den himmelhoch jubilierenden Kürzestauftritt der Sopranistin Miriam Kutrowatz, der „Mater gloriosa“ im Finale der Vertonung der Schlussszene von Goethes „Faust II“. All diese größtenteils monumentalen Notenmengen im Bereich D, arg nah an der Bühne, fast frontal in die ebenfalls freien Gehörgänge geschoben zu bekommen, war eine durchaus spezielle akustische Erfahrung, die nicht sofort nach dem letzten Akkord abklang.

Elbphilharmonie: Mehr Mahler geht nicht

Bloßer, unnütz lärmender Klangmassenauflauf-Zirkus also, und außer Spesen fürs viele auswärtige Personal nichts gewesen? Ganz und gar nicht. Denn NDR-Gastdirigent Semyon Bychkov rettete das Stück und seinen Eindruck souverän vorm Umkippen ins bloß Spektakelnde. Natürlich kann man als Organisator auf der mittigen Führungsposition nicht umhin, den „Veni creator spiritus“-Beginn mit aller Himmelsmacht von der Schöpfer-Kette zu lassen; das soll ganz unbedingt so, das geht auf gar keinen Fall dezent. Interessant und – im Rahmen dieser Bedingungen – erfreulich war aber, dass die Hineinhörbarkeit in die kontinentalplattengroßen Schichten dieser Riesenpartitur im weiteren Verlauf des ersten Teils sehr ordentlich erhalten blieb.

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Herausragend aus dem Solisten-Ensemble: Tenor Andreas Schager
Herausragend aus dem Solisten-Ensemble: Tenor Andreas Schager © Sebastian Madej | Sebastian Madej

Gelegenheiten, sich aus den gefühlt dreizehnfachen Fortissimo-Abschnitten in leisere Momente zurückzuziehen und auch tatsächlich zu gestalten, anstatt nur die wogenden Klangwellen zu verwalten, boten sich im ersten Abschnitt zwar kaum für ihn. Doch Bychkov verstand es konsequent gut, die Balance nicht ins Grobe kippen zu lassen und gleichzeitig die Spannung der Bögen zu halten. So kam einiges an Tiefenschärfe ins Breitwand-Panorama.

Damit hielt Bychkov auch den Weg, so gut es denn ging, frei für das siebenköpfige Solisten-Ensemble. Schon im ersten Abschnitt überragte der Tenor Andreas Schager mit seiner, darunter kann man nicht bleiben: Wunder-Röhre eindeutig alles und jeden. Obwohl die Solistinnen und Solisten tatsächlich am vorderen Bühnenrand platziert waren (unter anderen Umständen schon bei kleinerem Repertoire die sichere Todeszone für Einzelstimmen), schaffte Schager es, wagnergestählt, mit lässiger Sicherheit, auch dann noch heraushörbar zu bleiben, während Hunderte hinter ihm aus allen Rohren mahlerten.

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Den Beginn des zweiten Abschnitts, die zerklüftete, mystisch verrätselte Kulisse des „Faust“-Finales, malte Bychkov mit dramaturgischem Feingefühl als Klangtapete aus, vor der das himmlische Personal des Goethe-Texts ausgiebig philosophieren durfte. Man bekam einen konsistenten Eindruck davon, wie modern die Instrumentalpassagen dieses Teils auf Mahlers Zeitgenossen gewirkt haben mussten, bevor die „Riesenschwarte“ (Adorno) dann doch wieder mit Pathos in die Arena zurückkehren durfte. Wo alle rund 350 Mitwirkenden sich in den finalen, tosend lauten, allübermannenden „Chorus Mysticus“ emporschwangen, um (O-Ton Goethe: „das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis“) das Unbeschreibliche tatsächlich zu tun.

Weitere Termine: 12.4, 20 Uhr (dieses Konzert wird live auf NDR Kultur gesendet), 14.4. 17 Uhr. Evtl. Restkarten an der Kasse.