Hamburg. Rainer Moritz‘ neuer Roman „Vielleicht die letzte Liebe“ spielt auf dem Pariser Père-Lachaise – wo er sich verblüffend gut auskennt.

Von Grab zu Grab. Ohne Hast. Mehr als 20.000 Schritte legt Bernard jeden Tag zurück, ein vitaler Mann „in den besten Jahren“, immer zwischen den Toten. Er entziffert Inschriften, notiert Namen, entdeckt auch abseitige Lebensgeschichten, wird zum Experten. Manchmal richtet er eine umgestürzte Vase auf, manchmal räumt er den Touristen ihre Hinterlassenschaften an der letzten Ruhestätte von Jim Morrison hinterher. Bisweilen verbringt er die Nacht in einer der Kapellen. „Gäbe es nicht schon so viele Bücher über den Père-Lachaise, würde er womöglich eins in Angriff nehmen …“

Ein Satz, den man wohl auch als Selbstironie des Autors verstehen muss – denn Rainer Moritz hat sich, anders als sein Protagonist, schließlich sehr wohl dafür entschieden, eben solch ein Buch in Angriff zu nehmen. Der wortgewandte Hamburger Literaturhauschef lässt ja nicht nur lesen, er schreibt und veröffentlicht seit vielen Jahren auch selbst: Sachbücher über Schlager und Fußball etwa, Bildbände über schöne Hotels und Buchhandlungen, seit seinem Debüt „Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe“ immer wieder auch Romane. Moritz‘ Erstlingswerk spielte in Paris, wo der Autor und Übersetzer aus dem Französischen sich gut auskennt. Und auch im neuen Roman „Vielleicht die letzte Liebe“ (Oktopus Verlag, 192 Seiten, 20 Euro) kehrt er dorthin zurück, lässt einen Weinhändler im Ruhestand über den berühmten Pariser Friedhof Père-Lachaise streifen und über den Tod, viel mehr aber noch über das Leben sinnieren.

Rainer Moritz, Literaturhausleiter, Buchkritiker, Übersetzer und selbst Autor, hat ein Faible für Geschichten über ältere Menschen.
Rainer Moritz, Literaturhausleiter, Buchkritiker, Übersetzer und selbst Autor, hat ein Faible für Geschichten über ältere Menschen. © picture alliance/dpa | Georg Wendt

Bernard, man kann das so sagen, ohne ihm zu nahezutreten, ist ein sympathisch altmodischer Mensch. Nach dem Tod seiner Frau und insbesondere nach den Pariser Terrorattacken auf die „Charlie Hebdo“-Redaktion und den Musikclub Bataclan checkt er gewissermaßen aus der Gegenwart aus, er verkauft seinen Weinladen (der Protagonist in „Madame Cottard“ war übrigens ein Korkenhändler), tauscht seine Wohnung gegen ein Zimmer und verbringt seine Tage zwischen Mausoleen und anderen Grabstätten. „Das Leben selbst hatte sich unmerklich von ihm abgewandt.“

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Unglücklich ist er dabei nicht, lebensmüde schon gar nicht, was sich schon darin zeigt, dass er weniger die prominenten Verblichenen im Blick hat, sondern die französische Gastronomiehistorie als „Spezialgebiet“ wählt. „An wen sich die Nachwelt erinnert, der ist nicht vergessen, der ist nicht tot“, heißt es, und Bernard erinnert sich mit Vorliebe an Likörhersteller oder den „König der Senfherstellung“. Kauzig? Unbedingt!

„Vielleicht die letzte Liebe“, Oktopus Verlag, 192 Seiten, 20 Euro
„Vielleicht die letzte Liebe“, Oktopus Verlag, 192 Seiten, 20 Euro © OKTOPUS bei Kampa | OKTOPUS bei Kampa

Und natürlich begegnet Bernard nicht nur umherstreifenden Großstadtfüchsen und anderen „Pèrelachaisiens“, sondern – Paris, mais oui! – trifft dann doch eine Frau, eine deutlich jüngere, nun ja. Die erste gemeinsame Nacht verbringen sie in der Kapelle eines Malers, man kann das morbide finden oder eben originell romantisch. Wenn alle weiteren Beteiligten mausetot sind, hat das schließlich Einfluss auf die eigenen Lebensgeister: „Man spürt intensiv, dass man lebt und dass man weiterleben möchte.“

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Man folgt dem ungleichen Paar gern – und erst recht dem kenntnisreichen Autor, der an vielen Ecken Anekdoten einzustreuen weiß, die oft genug der skurrilen Realität entsprechen: über den Père-Lachaise-Direktor, dem mit seinen Friedhofsfüchsen tatsächlich ein Instagram-Hit gelang, über die üppige Marmor-Skulptur einer sendungsbewussten Dame, die zwar noch gar nicht tot, aber an ihrem Nachruhm höchst interessiert ist, über die Kosten für ein unbeschränktes Bleiberecht (15.000 Euro!), über die Berühmtheiten, die hier liegen (Sarah Bernhardt, Marcel Proust) oder eben gerade nicht liegen (France Gall).

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Er brauche immer erst den Ort, um einen Roman schreiben können, hat Rainer Moritz einmal verraten, und ganz sicher spielt auch hier der Schauplatz eine Hauptrolle. „Vielleicht die letzte Liebe“ ist eine gelungene Mischung aus Zärtlichkeit und Kuriosität, aus Friedhofsreportage und liebevoller Figurenzeichnung. Es ist die sanft melancholische, dabei nicht rührselige Erkundung eines Ortes, der zwar für die Ewigkeit taugt, sich aber wenig um die Zukunft schert.

Rainer Moritz‘ Autorenlesung an diesem Freitag im Büchereck Niendorf ist leider schon ausverkauft. Selber lesen, den passenden (selbstverständlich französischen) Wein dazu trinken und sich fest vornehmen, bald mal wieder nach Paris zu reisen, das sind nicht die schlechtesten Alternativen.