Hamburg. Der Auftritt des Kammerchors Tenebrae ist nicht bloß Chorkunst auf allerhöchstem Niveau, sondern schon eine Art musikalisches Wunder.
Wow. Was für ein Ereignis. Man könnte den Auftritt des Kammerchors Tenebrae als eines der bewegendsten Konzerte in der Geschichte der Elbphilharmonie bezeichnen. Und das wäre trotzdem noch eher unter- als übertrieben. Weil es mehr war als das: eine Demonstration dessen, was im klassischen A-cappella-Gesang möglich ist. Und eine musikalische Pilgerreise.
Elbphilharmonie: Kammerchor integriert religiöse Wanderung in den Auftritt
Genau die hat der Komponist Joby Talbot in seinem Stück „Path of Miracles“ („Weg der Wunder“) nachempfunden. Das gut einstündige Werk, 2005 für Tenebrae entstanden, reflektiert über den Jakobsweg, der von den französischen Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela führt, zur Grabstätte des Apostels Jakobus. Die Idee der religiösen Wanderung haben die 23 Sängerinnen und Sänger und ihr Dirigent Nigel Short in die Aufführung einchoreographiert. Sie schreiten im dritten Teil des Stücks gemeinsam durch den Raum, um einen Abschnitt im Rücken des Publikums, zwischen Block E und D, zu singen.
Und schon zu Beginn vermitteln sie den Eindruck einer Prozession. Auf der stimmungsvoll ausgeleuchteten, zunächst in die Passionsfarbe Lila getauchten Bühne, gruppieren sich die Männerstimmen vorne zu einem geschlossenen Kreis. Sie stimmen einen mysteriösen Obertongesang an, mit langsam aufsteigenden Glissandi. Diese Glissandi münden in einen Einsatz der Frauenstimmen, weiter hinten auf der Bühne. Ihr Akkord strahlt so durchdringend hell und klar, wie man es vielleicht nur bei britischen Chören hört.
Talbot vertont Texte über die Legende des Jakobus in sieben Sprachen
Mit dem Kontrast aus abgrundtief grummelnden Bässen und dem gleißenden Sopransound öffnet der Komponist Joby Talbot einen riesigen Klangraum, den er im weiteren Verlauf des Stücks immer wieder ausreizt und mit einem faszinierenden Reichtum an Motiven füllt. Talbot vertont Texte über die Legende des Jakobus aus verschiedenen Jahrhunderten und in sieben Sprachen – und spiegelt diese babylonische Vielfalt in seiner Musik.
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Er konfrontiert zarte einstimmige Melodien mit Passagen, in denen die Worte zu Staccatosilben zerstückelt sind, er schichtet rhythmische Muster übereinander und ballt die Klänge zu dramatischen Reibungen. Ostinatofiguren der Bässe erinnern an die stetigen Wiederholungen und die Mühsal des Pilgerns. Und dann kommen die Stimmen plötzlich im allerschönsten Wohlfühlakkord zusammen („In Jakobsland“).
Wie die Sängerinnen und Sänger von Tenebrae und Nigel Short die emotionalen Hochs und Tiefs der Pilgerreise durchleben, wie sie selbst in extremen Lagen gestochen scharf intonieren und ein unfassbares Klangvolumen entfalten: Das ist nicht bloß Chorkunst auf allerhöchstem Niveau, sondern schon eine Art musikalisches Wunder.