Hamburg. Das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt „Fragile Schönheiten“, eine sehenswerte Schau über die Welt der wenig verhüllenden Spitze.

Wenn man sich in Erinnerung ruft, wofür Kleidung eigentlich gedacht ist, dann erfüllt Spitze diese Anforderungen in keiner Weise. Wärme, Schutz, auch ein kulturell bedingtes Verhindern von Schamgefühlen – funktioniert bei Spitze nicht. Spitze ist durchsichtig, Wind und Wetter ziehen ungehindert durch, und das, was unter ihr liegt, steht den Blicken ebenfalls offen. Zudem ist die Technik, mit der aus Garn und Stoff kunstvolle Geflechte erzeugt werden, extrem arbeitsaufwendig, bei verhältnismäßig übersichtlichem Nutzen. Mit anderen Worten: Spitze ist unpraktisch, Spitze ist ästhetisch. Spitze ist im eigentlichen Sinne – Kunst.

Spitze: Ein Stoff, der nicht von dieser Welt zu sein scheint

Das Museum für Kunst und Gewerbe besitzt in seiner Mode- und Textilsammlung einen umfangreichen Bestand an Objekten aus Spitze. Von diesem ist nur ein kleiner Teil in der Kabinettsausstellung „Fragile Schönheiten – Spitze in Mode und Fotografie“ zu sehen, allerdings ein durchaus repräsentativer, wie Fotografiekuratorin Esther Ruelfs beim Rundgang beschreibt. Weil nämlich die gezeigten Arbeiten den gesamten Zeitraum der Spitzenproduktion abdecken, vom 17. Jahrhundert, als die sehr teure Nadelspitzentechnik der italienischen Modeindustrie einen Wirtschaftsboom verschaffte, über das Klöppeln, das ab dem 18. Jahrhundert die Spitze zu popularisieren half, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.

Im MK&G zu sehen: Madame d‘Ora: „The Chansonette Mistinguett“, entstanden ca. 1925 bis 1930, Gelatine Silver Print, 21,5 x 17,7 cm.
Im MK&G zu sehen: Madame d‘Ora: „The Chansonette Mistinguett“, entstanden ca. 1925 bis 1930, Gelatine Silver Print, 21,5 x 17,7 cm. © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg | Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Hier setzt auch der zweite, fotografische Teil der Ausstellung an. Mehrere Fotografien entstammen aus dem Atelier von Madame d’Ora, einer 1891 als Dora Kallmus in Wien geborenen Fotografin, die zunächst beeindruckende Porträts des österreichischen Adels und der höheren Wiener Gesellschaft anfertigte und dabei auch die mit Spitze besetzte Kleidung der Porträtierten in den Blick nahm. 1927 zog Madame d’Ora nach Paris und wurde dort zur prägenden Modefotografin ihrer Zeit. Nach 1945 kehrte sie nach Wien zurück, arbeitete aber kaum noch im Modebereich, sondern entwarf verstörende Fotoserien aus den Pariser Schlachthöfen Ivry Les Halles und Rue Brancion – und interessanterweise sind auch Bilder aus diesen drastischen Serien Teil von „Fragile Schönheiten“.

„Fragile Schönheit“: Eine so kleine wie lohnende Ausstellung im MK&G

Zu sehen sind Aufnahmen von Fettgeweben: netzartige Strukturen, die frappierend an die Netzstoffe aus Spitze erinnern. Die Fotografin selbst nannte diese Bilder, die hier als Wandtapeten präsentiert werden, ironisch „La Dentelle“, „die Spitze“. Was die freigelegte Gallenblase in die Nachbarschaft des Frauenhalses rückt, den ein kaum sichtbarer Stoff umschmeichelt.

In dieser so kleinen wie sehenswerten, als Kooperation zwischen Ruelfs und ihrer für die Modesammlung zuständigen Kollegin Bisrat Negassi entstandenen Zusammenstellung wird deutlich, dass man es bei Spitze mit Kunst um ihrer selbst willen zu tun hat. Allerdings ist das Gezeigte nicht rein dekorativ.

Der erotische Aspekt, der bei Spitze oft mitschwingt, wird kaum bedient

Das erkennt man auch, wenn man sich mit der Arbeit der 1873 in Stade geborenen Klöppelkünstlerin Leni Matthaei beschäftigt. Diese hatte zwar einen kunstgewerblichen Hintergrund, Garnarbeiten wie die „Musterstücke für Klöppelspitze“ (1919–1923) waren gedacht als Muster für die spätere Serienproduktion, aber schon hier spürt man, dass der Künstlerin der rein handwerkliche Zugriff nicht ausreichte: Die Spitze hat eine Tendenz zur Abstraktion, und Matthaeis Arbeit wird von Jahr zu Jahr zunehmend abstrakter, gipfelnd in der „Erlebnisskizze Sylt“ (1921–1925), ein Schichten von Flächen, in der sich nur noch skizzenhaft ein Inselumriss, eine Düne oder eine Welle erkennen lassen. Dass diese Abstraktion immer schon ein Teil des Klöppelns war, zeigen allerdings auch ältere Exponate aus dem 17. Jahrhundert.

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Was die im Umfang auf einen Museumsgang beschränkte Ausstellung kaum bedient: den erotischen Aspekt, der bei Spitze oft mitschwingt. Die gezeigten Fotografien streifen nur am Rande den naheliegenden Blick auf die Frauenhaut unter Netzstoff. Was vielleicht damit zu tun hat, dass die die Schau prägende Madame d’Ora als Frau womöglich vor einem objektivierenden Blick auf Frauenkörper zurückschreckte. Aber auch bei anderen präsentierten Fotografen fällt auf: Meist sind ätherisch anmutende Modelle zu sehen, bei denen die Spitze den Eindruck verstärkt, nicht wirklich von dieser Welt zu sein.

In Charles Émile Puyos „Dans les roseaux“ (um 1902) etwa wirkt die Protagonistin, als ob sie gleich in einen Seerosenteich fallen würde, Willy Zielkes hochsäthetisierte „Meditation“ (1927–1935) zeigt ein Model, das selbst wie aus einem durchscheinenden Stoffnetz zu bestehen scheint, ein Windhauch, und es ist weg.

Imre von Santhò: „Eleganter Hut mit Schleier“, ca. 1936 bis 1945. 
Imre von Santhò: „Eleganter Hut mit Schleier“, ca. 1936 bis 1945.  © Imre von Santhò/MKG | Imre von Santhò/MKG

All diesen Fotografien ist gemein: Sie zeigen Menschen, die gleichzeitig atemberaubend anmutig und lebensunfähig wirken, entrückt, das Gegenteil von praxisbezogen. Womit sie perfekt zur Spitze passen, die ja genau das auch ist: unpraktisch. Aber gleichzeitig auf eine luftige Weise schön.

„Fragile Schönheiten – Spitze in Mode und Fotografie“bis 29. September, Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz,www.mkg-hamburg.de