Hamburg. Besonderes Projekt: Am Jungen Schauspielhaus kommt „Ferdinand, der Stier“ modern auf die Bühne. Hamburger Rapper Inspektah mischt mit.

Eltern und kleine Kinder kennen und lieben das Buch über einen Stier, der so ganz anders ist als andere gehörnte Wesen, der sich am liebsten an den Blumen auf seiner Weide erfreut – und selbst, als er durch Zufall doch in einer Stierkampfarena landet, bei seinem friedfertigen Wesen bleibt.

Der US-amerikanische Autor Munro Leaf schrieb „Ferdinand, der Stier“ 1936 für Kinder im Alter von vier bis fünf Jahren. Es enthält nur wenige Textzeilen und wurde ein Bestseller. Disney hat daraus bereits 1938 einen reizenden Animationskurzfilm gemacht (1939 gab es dafür sogar einen Oscar), 2017 legten die Blue Sky Studios mit einer Langversion nach (unter dem in der deutschen Version etwas bemüht witzigen Titel „Ferdinand – Geht STIERisch ab!“).

„Ferdinand, der Stier“ schaffte es schon 1938 auf die Kinoleinwand – als später Oscar-prämierter Animationskurzfilm.
„Ferdinand, der Stier“ schaffte es schon 1938 auf die Kinoleinwand – als später Oscar-prämierter Animationskurzfilm. © imago images/Everett Collection | Courtesy Everett Collection via www.imago-images.de

Rap am Jungen Schauspielhaus Hamburg: „Beim Thema Männlichkeit bin ich Experte“

Und auch Alexander Klessinger, Regieabsolvent der Hamburger Theaterakademie, erkannte das Potenzial für eine größere Geschichte. Und als er wieder einmal mit dem befreundeten Schauspieler Enrique Fiß (u.a. „Großstadtrevier“) zusammensaß, dachte er gleich, dass der ihn mit seinen Stirnlöckchen an einen Stier erinnere. Fiß, ein junger Familienvater, hatte das Buch gerade geschenkt bekommen.

„Da wussten wir, wir müssen das machen“, erinnert sich der Schauspieler, der schon als Jugendlicher in zahlreichen Jugendclubs mitwirkte – unter anderem bei Klaus Schumacher am Schauspielhaus –, Schauspiel am Wiener Max Reinhardt Seminar studierte und bereits einige Projekte mit Alexander Klessinger erarbeitet hatte.

Enrique Fiß: „Beim Thema Männlichkeit sehe ich mich als Experte. Das habe ich erlebt“

„Das Buch enthält so viele schöne kleine Elemente. Aber es erzählt keine theatrale Geschichte. Also haben wir uns entschieden, einen Text zu schreiben“, erklärt Fiß im Besprechungsraum des Jungen Schauspielhauses. Und Alexander Klessinger neben ihm ergänzt: „Wir wussten, das kann man größer ziehen. Die Stiere, das Gehabe, das erzählt so viel über Jugend und Männlichkeit.“ Enrique Fiß nickt: „Beim Thema Männlichkeit sehe ich mich als Experte. Das habe ich erlebt. Da kenne ich mich aus.“

Sie reichten ihr Konzept im Wettbewerb für das jährliche Postgraduiertenprojekt am Jungen Schauspielhaus ein – und gewannen. An diesem Sonnabend ist nun Premiere im Jungen Schauspielhaus – zunächst auf der Studiobühne, doch schon Ende April soll die Inszenierung auf die große Bühne wechseln – die Nachfrage ist groß. Um das Stück für Kinder von 10 oder 12 Jahren interessant zu gestalten, suchten die beiden Theatermacher nach einer besonderen Ästhetik. Die Lösung: ein Rapper auf der Bühne.

Rapper Inspektah: „Seine Musik ist harter Rap, verzichtet aber auf jede Form von Sexismen“

„Der Deutschrap, den sich junge Menschen reinziehen, ist meist extrem materialistisch, sexistisch und gewaltverherrlichend. Und natürlich macht das was mit ihnen. Die Verherrlichung bestimmter Marken verspricht eine karge, arme Version von Glück“, erläutert Alexander Klessinger. „Da setzt der Ferdinand an – der einfach durch sein Wesen, sein Anderssein eine Kraft bekommt.“ Fiß wiederum ist mit Deutsch-Rap groß geworden, hört ihn privat bis heute. Er fragte den Hamburger Rapper Inspektah an, der freudig zusagte. „Seine Musik ist harter Rap, der aber auf jede Form von Sexismen oder homophoben Floskeln verzichtet“, so Fiß.

Schauspieler Enrique Fiß war an der Stückentwicklung von „Ferdinand, der Stier“ am Jungen Schauspielhaus beteiligt und spielt die Titelrolle.
Schauspieler Enrique Fiß war an der Stückentwicklung von „Ferdinand, der Stier“ am Jungen Schauspielhaus beteiligt und spielt die Titelrolle. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Erst einmal musste aber ein Stück her, denn das Bilderbuch wäre ja in zwei Minuten auserzählt. Klessinger und Fiß wählten hierfür nicht den Schreibtisch, sie gingen in den Probenraum, sponnen und probierten zwei Monate lang. Und so ist das Stück sehr szenisch entstanden. Neue Figuren kamen hinzu. „Man denkt ja, dass die Titelrolle viele Identitätskonflikte bewältigen müsse, damit sie komplexer wird, aber die Kraft von Ferdinand ist ja, dass er so ist, wie er ist“, sagt Alexander Klessinger, „also haben wir eine andere Figur entwickelt, Lukas, gespielt von Lennart Lemster, ein junger Stier, der gern zu den cooleren Stieren dazugehören würde, aber aufgrund seiner Geschichte und Statur nicht hinreichen kann.“ Dieser Lukas wird nun mit Ferdinand konfrontiert.

„Ferdinand, der Stier“: Von Anfang an stand fest, dass Enrique Fiß die Titelrolle übernimmt

Das Stück reflektiert auch die Leistungsideologie, das Credo des Wirtschaftslebens, dass man alles aus sich herausholen müsse. „Lukas gibt alles, kommt im System aber nie nach oben. Irgendwann realisiert er, dass in der Arena der Matador im Glanzlicht steht, nicht der Stier. Das ist auch eine Form von Kritik am System“, so Klessinger.

Von Anfang an stand fest, dass Enrique Fiß die Rolle des Ferdinand übernehmen würde. Außerdem wirkt Jara Bihler mit, die als Rodrigo die Werte des Stierkampfs lebt. „Die Besetzung der Rodrigo-Figur mit einer Frau soll unter anderem betonen, dass es nicht um Repräsentation geht, sondern vielmehr um eine inhaltliche Auseinandersetzung, die alle gleichermaßen angeht“, so Alexander Klessinger.

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Das Thema ist den beiden jungen Theatermachern ein persönliches Anliegen. Klessinger sieht enormen Nachholbedarf bei Männern. „Männlichkeit muss transformiert werden. Wir müssen unsere Hausaufgaben machen.“ Enrique Fiß, der väterlicherseits spanische Wurzeln hat, musste sich zudem mit dem Thema Stierkampf auseinandersetzen. „Dem romantisierten Bild des Stierkampfs, wie es in Spanien vorherrscht, kann ich nichts mehr abgewinnen. Da stellt sich ein Mensch über die Natur, die zunächst überlegen ist, aber glaubt dann doch, der Chef im Ring zu sein.“ Sein eigenes Bild von Männlichkeit hat er stark auf den Prüfstand gestellt. „Immer vermittelt man, dass es einem gut geht und dass alles läuft, dabei ist es lohnend und heilend, Gefühle zu zeigen, der Welt mit Offenheit und Sensibilität gegenüberzutreten.“

Klessingers Regie zieht auch aus der kritischen Betrachtung, das Töten zu einer Kunstform und zum Volkssport zu stilisieren, seine Kraft: „Ich glaube sehr fest daran, dass wir Räume brauchen, in denen wir unsere Gegenwart reflektieren können mit anderen Sinnen als den intellektuellen. Wir sind ja aufgeklärt, das Wissen ist da. Aber bei der Frage, wo kommt das rein ins Gefühl, ins Erleben, wo entsteht die Dringlichkeit, glaube ich unheimlich an das Theater.“ Am Premierenabend könnte es dabei genreübergreifend zwischen Sprechtheater, Musik und Tanz ziemlich wild auf der Bühne zugehen.

„Ferdinand, der Stier“ für Kinder ab 10 Jahren, Premiere 9.3., 18 Uhr, Studio Wiesendamm im Jungen Schauspielhaus, Wiesendamm 28, Karten unter T. 24 87 13; www.junges.schauspielhaus.de