Hamburg. Die unsterblichen Elektropopper begeistern in der ausverkauften Barclays Arena. Das Konzert steht aber auch im Zeichen eines Todesfalls.
Die ersten Takte gehen gleich mal gegen den Krieg, gegen welchen, ist fast schon egal – auch der selbst verschuldete Untergang der Menschheit durch den Klimawandel dürfte hier gemeint sein. In „My Cosmos Is Mine“ singt Dave Gahan erst „No war” und dann „No pain, no shrouds/No final breaths/No senseless death” (Kein Schmerz, keine Leichentücher, kein letzter Atemzug, kein sinnloser Tod). Auftakt mit einem starken Statement.
Die unsterbliche Elektropop-Band Depeche Mode macht auf ihrer Welt umspannenden Tournee Halt in der ausverkauften Hamburger Barclays Arena. Und zelebriert eine eindrucksvolle Rockmesse – und zugleich eine zeitgemäße Geisterbeschwörung.
Depeche Mode präsentiert sich auf der Höhe der Zeit
Vieles ist wie immer und doch manches anders. Schlagzeuger Christian Eigner knüppelt fast ohne Unterlass auf die Felle und webt auch den feinsinnigen Songs – die meisten stammen aus der Feder von Martin L. Gore – einen schönen, pointierten Rock-Puls ein. Gore selbst bedient Elektronik/Keyboards und E-Gitarre. Die Keyboards verstärkt Peter Gordeno.
Sänger Dave Gahan erscheint in weißen Stiefeln, Hemd, Weste und Glitzersakko und tänzelt von der ersten Minute an über die Bühne oder gibt den kreiselnden Pop-Derwisch. Aber Gahan und Gore, diese beiden Gentlemen des Elektropop liefern nicht nur ein Potpourri ihrer zahllosen Hits ab, um womöglich die Rente aufzupolieren – was sie gar nicht nötig haben – sie präsentieren ihre Kunst äußerst vital und auf der Höhe der Zeit.
Dave Gahan lobt Hamburger Publikum: „Besser als Berlin!“
Mit „Walking In My Shoes“, It’s No Good“ und „Policy Of Truth“ geht es gleich dynamisch hinein in die musikalische Zeitreise zurück in die 1990er-Jahre – aber in frischen Arrangements voller Farbenreichtum. Der Saal steht beim ersten Song. Alles ist tanzende Bewegung auf dieser Party, die bei aller Düsternis von Poesie und Sound sofort zu einer des Lebens und des Lichts wird.
Bei „Everything Counts“ singt die Menge textsicher mit, während Gahan den Mikrofonständer emporhebt und gen Publikum richtet. „Besser als Berlin“, scherzt der Sänger. Wenige Minuten später umklammert er den Ständer dramatisch und singt mit geschlossenen Augen, fährt sich immer wieder durch das apart zurückgegelte Grauhaar und verbeugt sich elegant wie ein Balletttänzer am Ende einer „Schwanensee“-Vorstellung.
Konzert steht auch im Zeichen von Andrew Fletcher
Die meist zurückhaltend in Schwarz-Weiß gehaltenen über Videoleinwände flimmernden Visuals frieren mitunter die Bewegtbilder auf der Bühne ein, sodass sie zu schemenhaften Schatten werden. Genau richtig für den Bluesrock von „I Feel You”. Das somnambule „In Your Room“ erklingt in einem rockigen mit viel Piano angereicherten Mix.
Schließlich erinnern aber das melodische „Before We Drown“ und das desillusionierte „Ghosts Again“ vom aktuellen Werk, dem 15. Studioalbum „Memento Mori“ daran, dass eben doch etwas anders ist als bei früheren Konzerten. Das Album steht ganz im Zeichen des Todes von Gründungsmitglied Andrew Fletcher im Mai 2022, dem stoischen, unaufgeregten Tastenarbeiter so vieler Jahre.
Depeche Mode verarbeitet den Tod des Gründungsmitglieds
Dass er die neuen Songs kannte, ist irgendwie tröstlich, auch wenn er sie nicht mehr selbst mit einspielen, produzieren und auch nicht mehr live präsentieren konnte. Über Jahrzehnte war er der sanfte Dritte, der zwischen den nicht immer harmonischen Diven Gahan und Gore für einen Ruhepol sorgte. Entsprechend ist das Album weniger von Hedonismus oder Dämonen, als von Reife, Lebensweisheit und einer gewissen Demut dem Leben und dem Sterben gegenüber geprägt.
Gahan und Gore verarbeiten den Tod ihres langjährigen Bandgefährten öffentlich. Bei „Behind The Wheel“ blickt der Saal auf sein übergroß in Schwarz-Weiß projiziertes bebrilltes Antlitz, eingerahmt von grünen Lichtern, die eine obskure Hoffnung verbreiten. Die Tragödie hat die beiden verbliebenen Exzentriker zusammengeschweißt. Beide haben inzwischen die 60 überschritten, doch vor allem Dave Gahan wirkt frisch wie eh und je. Noch immer wirbelt er im Kreis, tänzelt, stoppt auf den Fußspitzen, schwingt die Hüfte und verwandelt sich ganz in das laszive, verführerische Bühnen-Raubtier, das seine Anhänger so lieben.
Depeche Mode setzt immer wieder neue Akzente
Gahans Bariton klingt rund und voll wie immer. Aber auch Martin L. Gore nimmt sich mehr Raum als gewöhnlich. Er weiß betörend sinistre Arrangements von „Strangelove“ und „Heaven“ in bewegende Momente der Huldigung zu verwandeln. Und zeigt dabei auch stimmlich Präsenz.
Mit „Stripped“ und „Black Celebration“ geht es in der Zeitreise noch einmal weit zurück in die Mitte der 1980er-Jahre, aber auch diese erweisen sich als bis heute zeitlose, einfach exzellent geschriebene Klassiker der Pop-Geschichte. Radikal neu erfunden hat sich die Band über vier Jahrzehnte nicht, aber doch immer wieder neue Nuancen und Akzente gesetzt, mal ging es elektronischer zu, dann wieder analoger oder bluesiger. Über so viele Jahre eine so hohe Qualität abzuliefern, das ist eine Rarität im Pop.
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Am Ende dreht die Pop-Maschine gewaltig auf. Die Zugaben „Condemnation“, „Just Can’t Get Enough“, „Never Let Me Down Again“ und der kraftvolle Gitarren-Blues von „Personal Jesus” lassen das ohnehin selige Publikum beseelt strahlen. Und nach über zwei Stunden dieses grandios abgelieferten Sets steht eindeutig fest: Depeche bleibt weiter in Mode. Auf dass sie so lange weitermachen wie die Stones – mindestens.