Hamburg. Am Ernst Deutsch Theater feiert der Schauspieler Premiere. Über das Textlernen mit fast 90, Gründgens und andere „schwierige“ Kollegen.

Behände nimmt Charles Brauer die Stufen zur Bühne. Sein Alter (im Sommer wird er 89 Jahre alt) sieht man ihm nicht an. Und auch im freundlichen Gespräch während einer Probenpause am Ernst Deutsch Theater merkt es nur, wer während der Anekdoten und Erzählungen über Karrierestationen und berühmte, aber schon vor einer ganzen Weile gestorbene Wegbegleiter unwillkürlich zu rechnen beginnt. Einst engagierte ihn Gustaf Gründgens ans Deutsche Schauspielhaus, mit Fritz Kortner hat er ebenso gearbeitet wie mit George Tabori, im Hamburger „Tatort“-Team mit Manfred Krug schrieb Charles Brauer bundesrepublikanische Fernsehgeschichte.

Für die Schauspielerei entdeckt wurde er schon als Junge in der Straßenbahn, worüber er zuletzt in seinen Erinnerungen „Die blaue Mütze“ (Zytglogge, 26 Euro) geschrieben hat. An diesem Donnerstag kehrt Charles Brauer nun mit der Titelrolle im Zweipersonenstück „Dienstags bei Morrie“ nach fünf Jahren auf die Theaterbühne zurück. Im Abendblatt-Gespräch erzählt er über das Müssen und das Dürfen, wie man mit vermeintlich „schwierigen“ Kollegen zurechtkommt und warum er nicht einmal dann eine Vorstellung abgesagt hat, als er vom Tod der eigenen Mutter erfuhr.

Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch über Ihr Leben herausgebracht: „Die blaue Mütze“. Wie sind Sie das Erinnern angegangen? Konnten Sie auf eigene Tagebücher zurückgreifen?

Das Aufzuschreiben hat wirklich großen Spaß gemacht. Tagebuch habe ich leider nie geführt. Aber von 1953 an, also seit ich 18 war, habe ich eine Agenda geführt, einen Taschenkalender. Da habe ich Termine, Treffen mit Freunden und berufliche Stationen eingetragen, jahrzehntelang, immer. Das war eine ziemliche Hilfe. Ich habe alle diese Kalender noch.

Charles Brauer: „Freundschaften pflege ich intensiv – was sehr gern genommen wird!“

Im Buch erwähnen Sie außerdem eine Briefsammlung – gibt es die auch noch?

Ja, ich hebe alle Briefe auf, die mir wichtig sind, heute noch. Ich habe eine dicke Briefsammlung! Freundschaften pflege ich intensiv – was sehr gern genommen wird! Ich schreibe auch immer noch Briefe, mit Füllfederhalter. Und wenn ich Mails bekomme, drucke ich sie aus und hefte sie ab.

Der Schauspieler Charles Brauer (88) versteht das Ernst Deutsch Theater als seine künstlerische Heimat.
Der Schauspieler Charles Brauer (88) versteht das Ernst Deutsch Theater als seine künstlerische Heimat. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Sie haben Ihren Erinnerungen ein Zitat von Pessoa vorangestellt: „Ich vergesse mehr, als ich erinnern könnte“ ...

... ja, das fand ich so schön! Dabei ist es ja eigentlich so: Je mehr man erinnert, desto mehr Erinnerungen kommen nach. (lacht.) Die Corona-Zeit hat auch geholfen. Da konnte ich ja nicht viel anderes machen. Ich kam zum Schreiben.

Nächstes Jahr feiern Sie Ihren 90. Geburtstag – wird man mit den Jahren besser oder nur gelassener?

Als Mensch wird man gelassener. Auf der Bühne wurde ich im Laufe der Jahrzehnte immer besser. Man weiß besser mit sich umzugehen, man wird sicherer mit seinen Mitteln. Wenn man die Kraft behält und gesund bleibt. Und: Man wird besser, wenn man nicht muss. Das finde ich ganz entscheidend in diesem Beruf. Nicht müssen. Müssen stelle ich mir fürchterlich vor. Ich mache wirklich nur noch, was mir Freude macht. Ich habe seit fünf Jahren das erste Mal wieder Text gelernt!

Wie leicht fällt Ihnen denn das Textlernen mit Ende 80 ...?

Ich habe anfangs schon Respekt gehabt und gedacht, na, mal sehen, ob das noch geht. Aber, toi, toi, toi, hat noch geklappt! Ich war immer jemand, der sehr gut Text lernen konnte, mir ist das leicht gefallen. Ich lerne fotografisch, ich weiß genau, auf welcher Seite welcher Satz steht. Es gibt viele Schauspieler, die sich richtig schwer damit tun – aber dafür wissen manche ihre Texte noch Jahre später. Wenn Sie mich nach Texten von vor zwei Jahren oder gar von früher fragen – keine Ahnung. (lächelt) Ich halte das allerdings für einen Vorteil.

Lernen ist ein gutes Stichwort. Sie haben für die Schauspielerei einst die Schule verlassen. Haben Sie es je bereut, dass Sie kein Abitur gemacht haben?

Nein. Das war damals eine vollkommen klare Sache für mich. Ich wäre nach der Kriegszeit 20 oder 21 gewesen, wenn ich das Abitur gemacht hätte. Ich war sogar ein relativ guter Schüler – ich musste ein guter Schüler sein, weil ich für die Schauspielerei ja andauernd freihaben wollte. Ich hatte einen sehr netten Direktor, der mir das gewährt hat, allerdings auch den schönen Satz sagte: „Auch ein Schauspieler kann Abitur gebrauchen!“ Aber er hat‘s dann doch eingesehen. Für meinen Beruf und mein Leben brauchte ich keine Chemie, keine Physik. In Mathe war ich ganz gut. Alles andere habe ich mir selbst erworben. Ich hatte viel Glück mit Freunden und meinen Frauen, die oft sehr viel gebildeter waren als ich. Ich hatte sowieso immer Glück mit Menschen. Ich kann eigentlich ganz zufrieden sein.

Stoever (Charles Brauer) und Brockmöller (Manfred Krug, l.) haben im Hamburger „Tatort“ nicht nur ermittelt, sondern auch gesungen.
Stoever (Charles Brauer) und Brockmöller (Manfred Krug, l.) haben im Hamburger „Tatort“ nicht nur ermittelt, sondern auch gesungen. © picture-alliance / KPA Copyright | dpa Picture-Alliance /

Sie haben viel und sehr erfolgreich gedreht – warum sind Sie immer wieder ans Theater zurückgekehrt?

Überhaupt nicht mehr Theater zu spielen, das kam für mich nicht infrage. Nie. Ich wollte nur irgendwann nicht mehr fest in einem Ensemble sein. Eigentlich wollte ich schon frei arbeiten, als ich das Schauspielhaus, an das mich Gustaf Gründgens geholt hatte, verließ. Als dann Dieter Dorn und Ernst Wendt 1976 an die Münchner Kammerspiele gingen, da habe ich noch einmal nicht widerstehen können. Danach aber war Schluss mit einem festen Ensemble. Ich habe ja auch wirklich viel gedreht.

Unter Gustaf Gründgens waren Sie seit 1954 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg engagiert. Wie haben Sie ihn erlebt? Mochten Sie ihn?

Ja, den mochte ich. Das ist unverhofft auch eine Freundschaft geworden. Ich wäre nie darauf gekommen, dass ich einmal auch einen privaten Bezug zu dieser Legende bekommen würde. Er war in der Arbeit jemand, der wie ein Kollege war. Er selber hat sich immer als Primus inter Pares empfunden, und er war ein hervorragender Theaterleiter. Preußisch geradezu. Und Gründgens hatte auch einen Charme. Aber es war natürlich eine ganz andere Zeit. Wenn er merkte, der Etat reicht nicht, dann hat er einfach fünf Vorstellungen angesetzt, wo er selbst mitspielte. Dann war die Bude voll. Ich hatte ohnehin nie Probleme mit sogenannten Autoritäten, auch nicht mit den schwierigen. Ich habe wunderbar mit dem Regisseur Fritz Kortner gearbeitet, der nun wirklich einen bösen Ruf hatte. Manfred Krug galt ja auch als furchtbar schwierig – was er überhaupt nicht war, fand ich. Oder auch Putzi, also Götz George, mit dem ich schon früh gearbeitet habe. Zickige Leute sind unangenehm – aber wem es um die Sache geht, den verstehe ich gut. Wenn einem etwas nicht gefällt und wenn man das dann auch sagt, dann ist das doch richtig. Das habe ich auch oft gemacht. Diese Art von Schwierigkeit finde ich richtig und sogar genussreich.

Sie gelten als ausgesprochen diszipliniert. Sie haben hier am Ernst Deutsch Theater sogar einmal eine Premiere gespielt am Tag, nachdem Ihre Mutter gestorben ist. Wie schafft man so etwas? Und warum?

Es war am selben Tag. Den Anruf habe ich morgens um 7 Uhr bekommen, mein Bruder rief mich an. Natürlich war das heftig. Die Premiere am Abend abzusagen, das wäre mir trotzdem gar nicht in den Sinn gekommen. Mutti ist friedlich eingeschlafen, sie wurde 101 Jahre alt. Und sie hätte sicher gesagt: Na klar, du spielst! (Pause.) Für den nächsten spielfreien Montag war ich mit ihr verabredet. Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu meiner Mutter. Den 100. haben wir noch groß gefeiert im alten Lutter & Wegner in Berlin. Tolle Feier! Eine der Letzten, die das Lokal verließen, war meine Mutter. Das war schön.

Mehr zum Thema

Auch Ihre aktuelle Intendantin Isabella Vértes-Schütter kennen Sie schon sehr lange ...

Ich bewundere sie! Sie führt dieses Theater wirklich toll. Sie bietet nicht nur Boulevard an, sondern auch kompliziertere Themen. Das erste Mal habe ich sie gesehen, als sie vier Jahre alt war. Ihre Mutter, die Opernsängerin Helga Pilarczyk, hatte einen Auftritt in einem Stück, in dem ich auch gespielt habe. Die Helga Pilarczyk hatte eine tolle Ausstrahlung, sah wunderbar aus, wir waren alle voller Verehrung für sie. Und sie hatte eben eine kleine Tochter! (lacht) Die sah ich dann irgendwann wieder, da war sie schon Frau Schütter. Fiete, ihren Mann, kannte ich natürlich auch, vom Synchron. Aber als er hier am Ernst Deutsch Theater Intendant war, habe ich hier noch nicht gespielt. Damals war ich vielleicht noch mehr in den Staatstheatern unterwegs. Irgendwann fragte mich Isabella, ob ich es mir vorstellen könne, hier zu spielen. Bis Corona kam, haben wir seit 2010 jedes Jahr ein Stück hier gemacht. Ich habe das sehr genossen. Meine Beziehung zu diesem Theater ist wirklich eine sehr schöne.

Charles Brauer: „Die Hamburger muss man gewinnen. Sofort funktioniert das nicht“

Wie Ihre Beziehung zu Hamburg auch – Sie haben oft und lange hier gelebt und gespielt, an den Theatern oder im Hamburger „Tatort“.

Ja. Da schließt sich ein Kreis.

Wodurch zeichnet sich für Sie das Hamburger Publikum aus? Ist es anders als in Bochum oder München?

Ganz sicher sogar. Die Hamburger muss man gewinnen. Sofort funktioniert das nicht. Aber wenn man von ihnen angenommen ist, ist es ein sehr treues und angenehmes Publikum.

Am Donnerstag treffen Sie wieder aufeinander. Dann ist Premiere. Haben Sie eigentlich noch Lampenfieber?

Angst habe ich jedenfalls nicht. Da ist eine positive Erregung. Diese Erregung in den Abend hineinzubringen, das lernt man irgendwann. Der große George Tabori hat es damals wunderbar gesagt: Spiel das, hier und jetzt, was du empfindest. Nur dann hat es Ehrlichkeit.

„Dienstags bei Morrie“am Ernst Deutsch Theater, Premiere am 18. Januar, weitere Vorstellungen bis 18. Februar. Karten zu 2444 Euro/ermäßigt 9 Euro unter T. 22 70 14 20 oder www.ernst-deutsch-theater.de