Hamburg. Französische Komödie „1h22 vor dem Ende“ erweist sich im St. Pauli Theater als absurd-lebendiges Stück. Überraschungsgast: der Autor.

Französische Stücke gibt es im St. Pauli Theater öfter zu erleben, original-französische Töne nicht so häufig zu hören. Die sind im Parkett kurz vor der Premiere von „1h22 vor dem Ende“ indes deutlich vernehmbar. Und nach Ende der Vorstellung verbeugt sich mit dem Ensemble und dem Regieteam auch Matthieu Delaporte.

Der französische Star-Autor hatte es sich nicht nehmen lassen, zur Hamburg-Premiere seines neuen Stücks anzureisen. Seit er mit seinem damaligen Co-Autor Alexan­dre de la Patellière vor mehr als einem Jahrzehnt das Debütstück „Der Vorname“ geschrieben hatte, hat er sich auch international einen Namen gemacht. In Hamburg ohnehin: Die Salon- und Gesellschaftskomödie hatte 2012 im Schauspielhaus deutschsprachige Erstaufführung gefeiert und entwickelte sich danach im Theater Kontraste zum Publikumsrenner, noch bevor sie hierzulande im Kino ein Erfolg wurde.

Wie in „Der Vorname“ ist das Publikum in „1h22 vor dem Ende“ Gast in einem Pariser Appartement. Hier ist jedoch keine familiäre Clique zum Abendessen versammelt, diese Komödie schildert beinah in Echtzeit, wie der Sonderling Bernard sein Finale vorbereitet. Er hat nicht nur seine Wohnung abgeschlossen, sondern auch mit dem Leben. Statt rauszugehen und Kontakte zu suchen, legt er Platten von seelenverwandten Chanson-Stars auf: Dalida, Barbara et cetera.

St. Pauli Theater: Mit den TV-Stars Bezzel und Grossmann klopft der Tod an

Just als er aufs Fensterbrett klettert, um aus der vierten Etage zu springen, klopft es an der Tür. Und damit nimmt der Abend einen unerwarteten Verlauf: Der fremde Mann zückt eine Pistole und will dem Selbstmörder in spe offensichtlich die Entscheidung aus der Hand nehmen. Sehr zum Unwillen von Bernard, doch damit fängt der Spaß, so bitterböse das klingen mag, fürs Publkum erst richtig an.

Gast auf St. Pauli: Der Franzose Matthieu Delaporte schrieb auch „Der Vorname“ und „Das Abschiedsdinner“.
Gast auf St. Pauli: Der Franzose Matthieu Delaporte schrieb auch „Der Vorname“ und „Das Abschiedsdinner“. © Pascal Ito | Pascal Ito

Es entspinnt sich ein verbaler Streit um die korrektere Art zu sterben, um den richtigen Zeitpunkt, um immer mehr Details. Auch dank Georg Holzers vortrefflicher Übersetzung von „1h22 avant la fin“ ins Deutsche entwickeln sich in Ulrich Wallers atmosphärisch dichter, dennoch spielerisch lebendiger Regie absurd-komische Dialoge zwischen dem Selbstmordkandidaten und dem ungebetenen Gast. „Wenn man sich zu Tode langweilt, muss man was tun“, sagt der Eindringling. „Verstehe ich gut, wenn Sie wüssten ...“, entgegnet Bernard.

Stephan Grossmann auch als Dandy Ausdruck großer Schauspielkunst

Den Sonderling gibt Sebastian Bezzel als einen Verlierer par excellence: Sieht aus wie 50, ist aber erst 42 und immer noch Jungfrau. Der bayerische Wahlhamburger und Film-Star, populär dank der „Eberhofer“-Krimireihe, spielt seinen Charakter mit nachempfindbarer Zögerlichkeit und der Zerrrissenheit eines Gescheiterten.

Stephan Grossmann als der fremde Mann changiert mit Schnurrbärtchen, in weißem Jackett, in schwarzem Hemd (plus Amulett) und schwarzer Hose zwischen einem Dandy wie aus der Irrenanstalt (Kostüme: Ilse Welter) und einem Typen, der mit seinem Auftrag überfordert wirkt. Wie der TV-Star („Familie Bundschuh“, „Wolfsland“) mal aggressiv-rabiat, dann mitfühlend bis hilflos auftritt, ist äußerst spannend und amüsant anzuschauen. Und ein Ausdruck großer Schauspielkunst wie im St. Pauli Theater von ihm schon im Vorjahr in der Daniel-Kehlmann-Adaption „Nebenan“ gezeigt.

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Jetzt entpuppt sich Grossmann in seiner Rolle als personifizierter Tod, der sich diebisch über seine „Beförderung“ freut. Er steigt in Raimund Bauers stimmiger Drehkulisse noch eine Etage höher, in der mit Claire (kunstvoll-verführerisch: Nadja Petri) eine weitere Suizid-Kandidatin wartet. Aber nicht nur auf ihn, auch auf Bernard. Dessen sehr späte Begegnung mit der netten Nachbarin gerät zu einer beinah existenziellen Frage des Lebens. Mit dem Fazit: Für die Liebe ist es nie zu spät. Chapeau und Applaus für alle Beteiligten.

„1h22 vor dem Ende“ bis 11.2. (außer Mo), jew. 19.30, So 18.00, St. Pauli Theater (S Reeperbahn), Spielbudenpaltz 29/30, Karten zu 19,- bis 59,- in der Hamburger-Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, T. 040/30 30 98 98; www.st.pauli-theater.de