Hamburg. Regisseur Matthias Piro holt die Oper in die russische Gegenwart. Fürs Publikum ist der Abend auch ein Blick in die Werkstatt.
- Matthias Piros Version von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ feierte am Wochende an der Musikhochschule Premiere.
- Für den Regisseur stellt die Oper seine Abschlussarbeit dar.
- Diese muss sich nicht hinter großen Opern-Inszenierungen verstecken.
Haben sie es getan oder nicht? Die Frage bleibt in vielen Opern kunstvoll offen, der Musik-Erotiker Mozart ist Spezialist dafür. In Tschaikowskys„Eugen Onegin“ stellt sie sich eher nicht, aber der Regisseur Matthias Piro behauptet bei der Premiere am Sonnabend im Forum der Musikhochschule trotzdem mal flott per Video: Onegin schläft mit Tatjana. Das ändert vieles in der Dynamik des Stücks.
Wenn auf dem Bildschirm zur Ouvertüre Schnee auf einen verlassenen Kinderspielplatz vor einem Beton-Wohnblock fällt, ist die Verortung schon klar. Piro holt die Lebens- und Gedankenwelt des der Oper zugrundeliegenden Puschkin-Romans in die Gegenwart. Es ist ein Sprung von knapp zwei Jahrhunderten und einer von der adligen Gesellschaft des zaristischen Russlands in die soziale Wirklichkeit der Ära Putin.
Musikhochschule Hamburg: Abschlussarbeit vor vollem Haus präsentiert
So eine Premiere ist immer ein Ereignis und bindet alle möglichen Gewerke ein, von der Ausstattung übers Orchester bis zur Inspizienz. Viele von ihnen lernen noch. Für Piro ist es seine Abschlussarbeit. Es ist wahrlich nicht jedem vergönnt, für seinen Abschluss viele Dutzend Mitwirkende zu gewinnen und ihn auf der großen Bühne vor vollem Haus zu präsentieren.
Das Regiekonzept ist durchaus ehrgeizig. Niemand kann umhin, bei dieser Bildsprache die Aktualität von Krieg und Repression mitzudenken. Das kann leicht ins Klischee münden. Und die Tatjana des Originals ist nun einmal das schwärmerische junge Mädchen, weil sie auf dem Land aufwächst, ohne soziale Medien. Es ist kaum vorstellbar, dass inmitten der jugendlichen Gang in Muskelshirts und Fliegerblousons, die Tatjanas umtriebige Schwester Olga um die beiden schart, jemand in die eigene Innenwelt abtaucht und zu einem Buch greift.
„Eugen Onegin“: Moment maximaler Demütigung fasst Sopranistin in herzzerreißende Töne
Nach der ersten Begegnung, die bei Piro eben auch gleich eine sexuelle wird, ist Tatjana durch und durch verwirrt und bekennt Onegin ihre Gefühle. Der weist sie puschkingetreu zurück. Diesen Moment maximaler Demütigung fasst die Sopranistin Dalia Besprozvany in herzzerreißende Töne. Sie findet im Lauf des Abends zu dem melodischen Fluss, der Tschaikowskys Musik ausmacht, setzt ihre voluminöse Stimme zunehmend dramatisch ein und spielt eindringlich.
Der Bariton Yosif Slavov gibt einen testosterongeladenen, zynischen Onegin. Seine Erschütterung über das tödliche Duell mit seinem Freund Lenski ist nicht ganz glaubhaft, seine Verzweiflung im dritten Akt über die verpasste Chance – Tatjana ist inzwischen mit dem Fürsten Gremin verheiratet und bleibt ihm treu – umso mehr.
Für das Publikum ist es nicht nur große Oper, es ist auch eine Art Blick in die Werkstatt. An vielen Stellen merkt man, wie aufregend es ist, ein so komplexes Unterfangen tatsächlich zum Fliegen zu bringen. Dass es beim Abheben manchmal ächzt und knirscht, macht gerade den Charme aus.
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Deshalb hören die Ohren auch, wie genau Constantin Schiffner mit dem – namenlosen – Orchester an Tschaikowskys Musiksprache gefeilt hat. An der Duftigkeit und Durchhörbarkeit, an den lyrischen Passagen und den emotionalen Klangballungen. Über Intonationstrübungen hört man ebenso hinweg wie über einige Wackler im Zusammenspiel zwischen Graben und Bühne. Hier wird gehobelt, hier fallen Späne, das gehört dazu. Es entsteht Atmosphäre. Darauf kommt es an.
„Eugen Onegin“, weitere Vorstellungen im Forum der Musikhochschule am 15., 17., 19. und 20.1., jew. 19.30 Uhr. Karten 22/10 Euro, im Vorverkauf bei der Konzertkasse Gerdes, Rothenbaumchaussee 77; telefonisch unter T. 440298 oder T. 453326 sowie an der Abendkasse