Hamburg. Wie ein akribischer Hamburger Mäzen im Blankeneser Hinterhof das Werkverzeichnis eines fast vergessenen Künstlers zusammenstellte.
Die Kunstgeschichte nimmt zuweilen erstaunliche Umwege. Etwa, wenn ein enthusiastischer Hamburger Kunstsammler sich mit einer Hamburger Kunsthistorikerin zusammentut, um in einem Blankeneser Hinterhof zehn Jahre lang daran zu arbeiten, Ordnung in das unübersichtlich produktive Werk eines vielseitigen Künstlers aus Prag zu bringen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien und Berlin eine geschätzte Größe war, aber als Jude mit dem Kulturbruch der NS-Zeit in Vergessenheit geriet und dessen Werk in der Welt verstreut ist.
Das Ergebnis ist ein voluminöses und prächtig gestaltetes vierbändiges Werkverzeichnis der druckgrafischen Arbeiten von Emil Orlik (1870–1932), das gewissermaßen überfällige Basisarbeit für einen fast vergessenen und ungewöhnlich vielseitigen Künstler leistet.
Obsessiver Sammler: Die Kunstwerke stapelten sich, es bestand Handlungsbedarf
Der Reihe nach. Es war ein Porträt von Richard Strauss, das Peter Voss-Andreae zu einem Abenteuer mit unabsehbaren Folgen verleitete. Der Hamburger Jurist und ehemalige Vorsitzende der Justus Brinckmann Gesellschaft, dem Freundeskreis des Museums für Kunst und Gewerbe, hatte vor mehr als 20 Jahren eine vom künstlerischen Multitalent Emil Orlik im Jahr 1917 angefertigte Kaltnadel-Radierung eines Strauss-Brustbilds im Dreiviertelprofil für seine kleine Sammlung von Bildern rund um die Musik erworben. Schon bald beschäftigte Voss-Andreae der Künstler mehr als der Porträtierte – er suchte nach weiteren Arbeiten von Orlik, wurde zum obsessiven Sammler von dessen druckgrafischen Arbeiten und setzte sich leidenschaftlich für den zu Unrecht kaum noch bekannten Künstler ein. So initiierte Voss-Andreae 2012 zum 80. Todestag die Ausstellung „Wie ein Traum! – Emil Orlik in Japan“, die in Hamburg und weiteren deutschen Städten sowie in Krakau gezeigt wurde.
Damals lernte Peter Voss-Andreae die Kunsthistorikerin Birgit Ahrens kennen, die ihre Doktorarbeit über Orlik und das Theater geschrieben und zum Katalog der Japan-Ausstellung einen Text beigetragen hatte. Die beiden Hamburger waren sich über die Bedeutung von Orlik einig und auch darüber, dass es an einer systematischen Übersicht über die kaum überschaubare Vielzahl von dessen Arbeiten fehle. Peter Voss-Andreae erzählt, dass „Frau Ahrens auftauchte“, als sich die Karteikarten, die er „als penibler Buchhalter“ zu jedem Stück seiner rasch wachsenden Sammlung angelegt hatte, stapelten und Handlungsbedarf bestand – ein Glücksfall für den Sammler, weil Birgit Ahrens wissenschaftlich über den Künstler gearbeitet hatte und am Aufbau einer anderen Orlik-Sammlung beteiligt war.
„Habe ich Sie nicht direkt nach der Ausstellung 2012 gefragt, ob wir nicht eben noch das Werkverzeichnis machen wollen?“, fragt Peter Voss-Andreae spöttisch und lächelt Birgit Ahrens zu. Die Wahrheit ist, dass beide schon zu Beginn ahnten, dass es ein schwieriges Vorhaben werden könnte – nicht jedoch, wie kompliziert und aufwendig es tatsächlich wurde. „Wenn ich gewusst hätte, dass es zehn Jahre bis zur Fertigstellung dauern würde, hätte ich nicht angefangen“, sagt Voss-Andreae. Ahrens ergänzt: „Wir waren mehrmals drauf und dran aufzugeben. Aber wir haben durchgehalten, worüber ich mich sehr freue, weil Orliks Werk es wert ist.“
Wohlgemerkt, die beiden haben sich in ihrer erschöpfenden Recherche auf den Aspekt im Werk von Orlik konzentriert, der ihnen als der reichste Teil seines Schaffens erschien, nämlich seine druckgrafischen Arbeiten. Dass Orlik in so vielen unterschiedlichen Genres wie kaum ein anderer Künstler aktiv war, ist im biografischen Anhang dieses Verzeichnisses nachzulesen. Er zeichnete und druckte nicht nur, sondern malte auch, arbeitete kunsthandwerklich, war Buchgestalter und Exlibris-Künstler, entwarf fürs Theater Plakate, Bühnenbilder und Kostüme, entwickelte Papiere und gestaltete Tapeten, fertigte Fächer und Medaillen.
Emil Orlik: Im Auftrag von Max Reinhardt erschuf der Künstler ein ikonisches Plakat
Souverän bewegte er sich im Spannungsfeld zwischen angewandten und freien Künsten, und er eignete sich handwerkliche Techniken an, um auszuprobieren, wie er sie für seinen künstlerischen Ausdruck nutzen könnte.
Der Prager Orlik hatte 1900 in Brünn seine erste Einzelausstellung mit 310 Arbeiten. Bereits 1897 hatte er im Auftrag von Max Reinhardt ein ikonisches Plakat zu Gerhart Hauptmanns sozialem Drama „Die Weber“ geschaffen, das neben öffentlicher Wertschätzung auch die Freundschaft zum Regisseur und zum Autor begründete. In seiner Wiener Zeit schloss er sich dem Kreis um Klimt an und stellte in der Secession in prominentem Umfeld aus. In dieser Zeit entstand auch eine seiner bekanntesten Radierungen, ein bis heute viel veröffentlichtes Porträt von Gustav Mahler.
Wesentlich für sein hohes Ansehen unter Künstlerkollegen und zahlungskräftigen Kunden war das Ergebnis einer mit Stipendium geförderten fast einjährigen Japan-Reise. Orlik hatte die hohe japanische Kultur des in Europa lange Zeit vernachlässigten Farbholzschnitts in allen Arbeitsphasen studieren wollen – und er brachte viel technisches Wissen, Werkzeug und vor allem seine eigenen fertigen Farbholzschnitte sowie Skizzen mit, die einen klischeefreien Blick auf die japanische Kultur sowie eine virtuose Umsetzung der frisch erlernten Techniken des Holzschnitts und des Farbdrucks zeigen. Der Reise nach Japan sollten viele weitere folgen, unter anderem in den Orient und nach Südostasien, die allesamt Motive und Anregungen für Orliks druckgrafische Arbeiten lieferten.
Sammler Voss-Andreae: „In Prag haben wir eine Woche lang in Karteikästen gewühlt“
Als Orlik 1905 nach Berlin übersiedelte, war er bereits ein anerkannter Künstler. Er hatte dort an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums eine Professur für Grafik übernommen, zu seinen Schülern zählte beispielsweise George Grosz. Außerdem war Orlik ein gefragter Porträtist von Prominenten vor allem aus dem kulturellen Leben und von Großbürgern, die es sich leisten konnten – eine Auftragsarbeit führte ihn sogar in die USA. 1918 nahm er auf Einladung des deutschen Verhandlungsführers als „zeichnender Journalist“ an den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk teil, die den Ersten Weltkrieg zwischen dem Deutschen Reich und Russland im Osten beendeten. Er fertigte Porträtkarikaturen der 60 Delegierten an, die ihnen als Mappenwerk geschenkt wurden.
Orlik starb 1932 in Berlin. Ein großer Teil seines Nachlasses ging an seinen Bruder Hugo in Prag. Dieser wurde 1941 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Emil Orliks Werk geriet in Vergessenheit. Einiges ging in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg verloren. Das Gros aber war so in der Welt verstreut, dass es viel Recherche-Arbeit erforderte.
Ausgehend von Voss-Andreaes Karteikarten zur eigenen Sammlung und vier Verkaufskatalogen einer Kölner Galerie, die bis dahin die Referenz zu Orlik gewesen waren, fingen Peter Voss-Andreae und Birgit Ahrens zuerst an, eine Datenbank aufzubauen. Diese vergrößerte sich rasch durch Reisen zu Archiven und Museen in Prag, Wien, Dresden, Regensburg und Mainz – wobei die beiden ab und zu erstaunliche Erfahrungen machten, berichtet Voss-Andreae: „In Prag haben wir eine Woche lang in Karteikästen gewühlt, die seit 1908 nicht mehr angerührt worden waren.“ Außerdem suchten die beiden über die von ihnen eingerichtete Website orlikonline.de weltweit Kontakt zu Sammlern und nutzten dieses frisch geknüpfte Netzwerk zur weiteren Vervollständigung. Und Birgit Ahrens ergänzte das Verzeichnis permanent durch ihre unermüdliche Online-Recherche.
Als Voss-Andreae und Ahrens ihre Arbeit 2013 begannen, gingen sie von etwa 1000 druckgrafischen Werken aus. Das jetzt vorliegende Verzeichnis erfasst mehr als 2300 Blätter. „Ich wage die Prognose“, sagt Voss-Andreae, „dass wir die Druckgrafik zu 98 Prozent erfasst haben.“
Zehn Kilo schwer: Nach zehn Jahren Arbeit ist das Verzeichnis fertig
Selbstverständlich haben die beiden auch die Hamburger Bestände erfasst – neben Voss-Andreaes Sammlung von rund 600 Blättern. Das Kupferstichkabinett der Kunsthalle und das Museum für Kunst und Gewerbe besitzen mehrere Dutzend Orlik-Grafiken. Außerdem ist im Dehmel-Haus in Blankenese bei dessen Sanierung durch die Hermann-Reemtsma-Stiftung eine von Orlik entworfene Tapete entdeckt worden. Orlik war zudem nachweislich in zwei Hamburger Ausstellungen vertreten, zum Beispiel in der Galerie Commeter.
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Das Ergebnis von zehn Jahren Arbeit ist ein gut zehn Kilo schweres, opulent gestaltetes vierbändiges Werk von mehr als 1500 Seiten mit 1280 Abbildungen, das in einer Auflage von 700 Exemplaren erschienen ist. Ein Werkverzeichnis, das allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt – und das darüber hinaus, wie Peter Voss-Andreae betont, gut lesbar, üppig bebildert und anregend präsentiert sei („eine große Leistung der Buchgestalter“), damit auch diejenigen, die nicht mit Orlik vertraut seien, etwas davon hätten.
Last, but not least ist das Werkverzeichnis auch ein hervorragendes Beispiel für Hamburger Mäzenatentum: Ohne jedwede Förderung wurde es allein von der Familie Voss-Andreae finanziert. Beziffern kann und will Peter Voss-Andreae diese Leistung nicht – es genügt zu sagen, dass dieser Beitrag zur Orlik-Rezeption es ihm wert war.
„Emil Orlik – Das druckgraphische Werk“, 4 Bände, 1574 Seiten, 1280 Abbildungen, 665 Farbabbildungen, Deutscher Kunstverlag 2023, 198 Euro