Hamburg. In der Neuproduktion von Offenbachs komischer Oper pendelt die Stimmung zwischen Langeweile und zappelnder Hysterie.
Ooooh! Aaaah! Spontane Staunensrufe im Publikum. Und dann: Zwischenapplaus. Für das Bild von der Unterwelt, mit dem der zweite Teil beginnt. Eurydike räkelt sich auf einem Sarg, sie trägt ein schwarzes, paillettenfunkelndes Minikleid und Strapse. Hinter ihr öffnet sich der Weg in eine Höhle. Sie leuchtet sündenpfuhlrot; der Eingang erinnert an eine Vulva.
Für die Neuproduktion von Jacques Offenbachs komischer Oper „Orpheus in der Unterwelt“ am Allee Theater haben die Ausstatterinnen (Bühne: Kathrin Kegler, Kostüme: Lisa Überbacher) eine berauschend sinnliche Bilderwelt geschaffen. Farbensatt, glitzernd, detailfreudig. Und voller erotischer Anspielungen. Das Höllenfest ist eine Fetischparty. Pluto, der geile Gott der Unterwelt, gern mit freiem Oberkörper unterwegs, trägt zwei rote Teufelshörnchen an der Stirn und lässt bei jeder Gelegenheit seine gestreckte Zunge züngeln. Wie eine lüsterne Schlange.
Orpheus in der Unterwelt: Stimmung zwischen Langeweile und zappelnder Hysterie
Dass es in diesem Stück vor allem um das eine geht, zeigt der inszenierende Intendant Marius Adam schon beim, äh, Vorspiel des kleinen Kammerorchesters: Orpheus, ein befrackter, selbstverliebter Geigerschönling, befriedigt eine Nymphe am rechten Bühnenrand mit seinem Bogen.
Wie dieser Geigenbogen mal als Ersatzphallus dient, dann zum Peitschen verwendet oder als Säbel genutzt wird, deutet den für die Kammeroper so typischen, bodenständigen Witz an. Regisseur und Bearbeiter Marius Adam erzählt die an antike Mythen angelehnte Geschichte über zänkische Paare, außereheliche Affären und verkommene Moral unterhaltsam und fluffig. Der satirische Biss, mit dem Offenbachs Stück auch den höfischen Prunk und die Normen seiner Zeit bloßgestellt hat, rückt in den Hintergrund. Hier geht’s um eine hedonistische Spaßgesellschaft, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick. Die Stimmung pendelt zwischen Langeweile und zappelnder Hysterie. Es wird gekreischt („Eine Schlangeeee!!) und aufeinander geritten, aber auch ausgiebig geschnarcht. Letzteres vor allem in der öden Götterwelt, die der Boss Jupiter so gar nicht im Griff hat. Seine Mitgötter haben die Nase voll vom überirdischen Alltag und der entsprechenden Speisenauswahl. „Mailänder Schinken statt Ambrosia trinken!“ steht auf einem Banner, bei der Anti-Jupiter-Demo im Olymp.
Die Inszenierung hat ein spritziges Tempo
Die Inszenierung lebt von solchen Ideen, sie zündet viele Pointen und hat gerade in den Sprechdialogen ein spritziges Tempo. Allerdings braucht sie ein bisschen, um in Fahrt zu kommen. Auch weil die gesungenen Texte manchmal schwer zu verstehen sind. Mit dem hohen Silben-Speed seiner – im Original französischen – Arien und Duette macht es Offfenbach seinen Interpreten aber auch nicht gerade leicht.
Ein Höhepunkt der Produktion sind die Ensembleszenen. Marius Adam choreografiert sie mit seinem gewohnt spielfreudigen Kammeropern-Cast schmissig und präzise. Am Ende gibt’s sogar einen Can-Can, ganz stilecht, mit Spagat und Röckewedeln, gewirbelt von den Tänzerinnen Sabine Barthelmess und Sonya Lachmann. Altona kann auch Paris. Das Moulin Rouge liegt an der Max-Brauer-Allee.
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Orpheus in der Unterwelt: Vokaler Gesamteindruck überwiegend gut bis klasse
Ettore Prandi, musikalischer Leiter der Kammeroper, hat die für großes Orchester komponierte Partitur auf eine Quartettbesetzung eingedampft – und findet mit der Mischung aus Klavier, Streichern und Klarinette schöne Klangmischungen, die den sinnlichen Grundton des Stücks treffen.
Bei der Premiere wird der erkrankte Prandi von Simon Münzmay vertreten. Er hat das Geschehen sicher im Griff, bei dem mit zwölf Sängerinnen und Sängern eine fürs Allee Theater ungewohnt große Anzahl an Solisten auf der Bühne steht. Manche von ihnen könnten noch mehr operettigen Schmelz in die Stimme legen. Doch der vokale Gesamteindruck bleibt trotzdem überwiegend gut bis klasse. Besonders stark: Marie Chirine Rihane mit ihrem beweglichen Koloratursopran, in der Rolle der aufmüpfigen Göttergöre Diana. Der junge Tenor Berus Komarschela, als grinsekatziger Geigen-Geck Orpheus mit lyrischem Timbre. Und natürlich Anne Elizabeth Sorbara. Seit ihrem Debüt mit Rossinis „La Cenerentola“ vor vier Jahren ist sie eine sichere Bank für anspruchsvolle Sopranpartien an der Kammeroper. Und sie liefert auch als Eurydike, mit strahlender Höhe, stabilen Spitzentönen und einer körperlichen Präsenz, den diese Rolle einfach braucht. Nicht nur, wenn sie sich sündig in der Unterwelt räkelt.
„Orpheus in der Unterwelt“, Vorstellungen bis 24. Februar 2024. Max-Brauer-Allee 76. Tickets unter T. 382959