Hamburg. Der umstrittene Rammstein-Musiker trat in der Sporthalle auf. Seine Gegner hielten die Stellung, die Fans waren aber klar in der Überzahl.
Die Peniskanone hat die kontroverse deutsche Exportband Rammstein im Sommer abgeschafft. War immer schon ein behämmerter Mittelstufenschüler-Gag übrigens, was sonst. Bemerkenswert, dass Hunderttausende bei Open-Air-Konzerten immer darüber gelacht haben. Würden sie wahrscheinlich immer noch tun in großen Teilen.
Genauso wie die Fans auch weiterhin auf die Konzerte gingen und gehen: Am Freitagabend tat der seit Mai dieses Jahres unter Beschuss stehende Musiker Till Lindemann in Hamburg auf. Dabei war die Sporthalle wie viele andere Stationen seiner Europa-Tournee ausverkauft. Presse war übrigens nicht erwünscht, das Abendblatt kaufte sich ein Ticket.
Till Lindemann in der Sporthalle Hamburg: Proteste gegen Konzert werden kaum beachtet
Man kann im Hinblick auf Lindemanns Skandalwochen im Sommer, die mangels Beweisen für seinen angeblichen Machtmissbrauch mit einer Verfahrenseinstellung endeten, davon ausgehen, dass sein Image gelitten hat. Auch in Hamburg, wo eine Absage des Konzerts gefordert worden war. In der Schanze war für Freitag eine Disconacht annonciert: „Tanzen gegen Till & Sexismus“ im Centro Sociale. Und die Rote Flora hatte im Vorfeld zum Protest in Winterhude aufgerufen.
Es hatten sich dann auch Lindemann-Gegner postiert, Kritiker des Mannes, dem sexuelle Gewalt vorgeworfen wird. 60 werden es gewesen sein, mit Plakaten und Bannern: „Keine Show für Täter“, „Feuer und Flamme dem Patriarchat“ und, fast rührend, „Jugend gegen Sexismus“.
Sie wurden kaum beachtet von den Vorbeieilenden. Wie auch: Die Demonstranten mussten, flankiert von Polizisten, an der Kreuzung Braamkamp/Alsterdorfer Straße stehen. Weit weg von den Eingängen der Sporthalle, als kurioses, eher belustigendes, jedenfalls nicht einmal annähernd für Irritation sorgendes Anschauungsmaterial für Lindemanns Fans, die mit Bierdose in der Hand von der U-Bahn-Station zu ihrem Abendprogramm strömten.
Übers Megafon gesprochene Ansagen über alltäglichen und strukturellen Sexismus verflüchtigten sich im Verkehr der Rushhour. Zu einem drang aber doch etwas durch, seine Reaktion ein Schlachtruf aus der Ultra-Abteilung in Richtung Mini-Demo: „Lindemann, Lindemann!“ Freundliches Gelächter der Umstehenden.
Till Lindemann in Hamburg: Proteste gegen strukturellen Sexismus
Den wackeren feministischen und antisexistischen Aktivistinnen und Aktivisten entgegen standen die knapp 7000 (unter ihnen viele Frauen), die Lindemann entschlossen unkritisch während des anderthalbstündigen Konzertes zujubelten.
Als Reporter hatte man sich vorher die Frage gestellt, ob und wie man über Till Lindemann schreiben soll. Verbietet sich das jetzt generell, trotz der juristischen Entscheidung pro Lindemann? Oder ist „Cancel Culture“, die sogenannte, eh blöd? Eins ist klar: Die Vorwürfe gegen den Musiker bleiben schwerwiegender als die meist verbalen tatsächlichen oder angeblichen Verfehlungen von Künstlern, die sonst gemeinhin zu Boykottversuchen führen.
Neugierig durfte man auf den Auftritt wohl sein. Darauf, ob Lindemann seinen Status als nun – für viele, längst nicht alle, siehe die volle Sporthalle – unerwünschte Person in Hamburg auf der Bühne adressieren würde. Und allgemein darauf, wie die Reaktionen der Fans auf den Lindemann-GAU aussehen würden. Würde irgendeine noch so kleine Form von Unbehagen zu spüren sein?
Lindemann in der Sporthalle: Vibrierend vor Vorfreude
Es war alles so: Vor Konzertbeginn Schlangen vorm Merchandisestand. Kotzgeruch in den sanitären Anlagen. Die ersten Reihen vor der Bühne früh gut gefüllt, auch mit Frauen. Lindemann zieht viele Altersgruppen an, gesichtet wurden auch Ü-70-Rocker. Die Sporthalle vibrierte vor Vorfreude. Wenig wirklich grimmige Blicke, höchstens mal angedeutet. „Evil German“ stand auf einem T-Shirt. Lustig. Ein weiblicher Fan, nicht mehr ganz jung, trug den Rammstein-Songtitel „Pussy“ spazieren, mit dem wahlweise erhellenden oder vernebelnden Zusatz „Just a little bitch“.
Polonaise bei der Vorband. Luftballons. Kaum vorstellbar, dass hier jemand ein paar Gedanken an die auf der Demo vorgebrachten Kritikpunkte verschwendete. Es wurde dann: ein normales Lindemann-Konzert.
Womit vermutlich eine Sache einmal mehr geklärt war: Wer den Industrial-Rabatz und die provokativen Texte des Trieblyrikers Lindemann mag, der sieht keine Veranlassung, seine Fan-Liebe von dem teutonischen Weltstar abzuziehen. Im Gegenteil, Rammstein-Shirts wurden zuletzt sicher nicht nur in der Sporthalle mit Trotzstolz getragen.
Lindemann sang seine Fetisch-Lieder, wie immer
Und wer mit der morbiden, clownesken, immer ein bisschen billigen, jedenfalls wenig raffinierten Selbstinszenierung der Bühnenperson Lindemann nicht so viel anfangen konnte, ist auch nach der Einstellung der Ermittlungen nicht unbedingt bereit, den überlieferten Tourlifestyle des Künstlers, gelinde gesagt, mit etwas anderem als Skepsis zu betrachten.
In der Sporthalle präsentierte Lindemann gewohnt kraftmeierisch sein Soloprogramm mit Songs wie „Zunge“, „Altes Fleisch“ und „Sport Frei“. Und auch „Golden Shower“, „Gummi“ und „Knebel“, seine Fetisch-Stücke und Sadomaso-Lieder also, sind bei dieser Tour auf der Setlist. Lieder, bei denen man sich seit diesem Jahr dann halt fragt, ob sich die Kunstperson noch von der realen unterscheidet und ob das denn einen Unterschied macht.
Wollen seine Fans den Künstler im Werk sehen oder lieber nicht?
Aus der Beobachterdistanz musste bei der solide performten Show wie immer offen bleiben, ob Lindemanns Fans die Songs als Komik-Angebot, als Spaßangelegenheit begreifen. Ob sie Verse wie „Ich mag die Sonne, die Palmen und das Meer/Ich mag den Himmel, schau‘ den Wolken hinterher/Ich mag den kalten Mond, wenn er voll und rund/Und ich mag dich mit einem Knebel in dem Mund/Ich mag volle Gläser, die Straßen, wenn sie leer/Ich mag die Tiere, Menschen nicht so sehr“ nur wie ein kinky Rollenspiel betrachten.
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Gehen sie für den repetitiven Gitarrenbums auf ein Lindemann-Konzert? Geht es in Wirklichkeit um die Dröhnung, sind die morbiden und sexuell aufgeladenen Texte eigentlich egal? Wollen Sie den Künstler im Werk sehen oder lieber nicht? Anzunehmen, dass niemand das alles allzu ernst nimmt.
Der Expressionist Lindemann zog in der Sporthalle sein Hartsing-Programm durch, das ja immer auch eine Art Angrollen des Publikums ist. Muss man drauf stehen. Auf den Bildschirmen gab es viel Anzügliches, Provokantes zu sehen, visuell hat Lindemann also nicht abgerüstet. Bei „Fat“ schwabbelten Fettwülste, bei „Altes Fleisch“ faltete sich die Haut, bei „Golden Shower“ flipperten Vulven. Wie immer fehlte die zweite Ebene.
Lindemann-Publikum: Sexismus ist wohl ein Fremdwort
Für die in Hamburg versammelte Fangemeinde war’s sicher ein Fest. Es gab auch im Publikum keine Durchhänger, wer weiß, vielleicht war mancher Applaus auch aufmunternd gedacht. Wobei, wohl doch eher nicht, bestand in dieser Runde, für die Sexismus augenscheinlich ein Fremdwort ist, ja keine Veranlassung zu.
Till Lindemann, der bis in die Zugaben zwischen den Stücken quasi kein Wort sagte, hat zum Amüsement der Leute auf der Bühne eine diebische Freude an Geschmacklosigkeiten, er ist der Mann der grellen Bilder. Die galt es, auf dem Handy festzuhalten. Ein Satansbraten (so was in der Art? Immer diese rote Montur): Lindemann, der auf der Videoleinwand apathische nackte Frauen durch Schneelandschaften zieht, ist da in erster Linie ein krasses Motiv für die WhatsApp-Gruppe.
Gut, dass keine Feministinnen das mitbekommen mussten.