Hamburg. So spektakulär, dass einem der Mund offensteht: Damien Jalet sorgt mit „Planet (Wanderer)“ für die absolute Publikumsüberwältigung.

Absolute Dunkelheit. Ein Dröhnen erfüllt die große Halle k6 auf Kampnagel, ein Wummern, dann: ein Lichtschimmern. Kaum merklich beginnt der Boden zu flimmern, leise schneit Glitzer von der Decke, irgendwann erkennt man, dass sich unten etwas regt, ein Körper, er streckt sich, sackt wieder zusammen, rollt zur Seite. Und derweil entpuppt sich eine Erhebung am Bühnenrand als Knäuel aus Leibern, zusammengekauert, ineinander verschlungen: erst ein Arm, dann ein Bein, dann ein Kopf werden sichtbar, es ist eine Überraschung, auch ein kleiner Trick mit Lichtstimmungen und Schatten, der hier auf offener Bühne Unerwartetes entstehen lässt.

Damien Jalet auf Kampnagel: Spektakulärere Bühnenkunst dürfte derzeit in den Hamburger Theatern kaum zu finden sein.
Damien Jalet auf Kampnagel: Spektakulärere Bühnenkunst dürfte derzeit in den Hamburger Theatern kaum zu finden sein. © Rahi Rezvani | Rahi Rezvani

Damien Jalet, belgisch-französischer Meister des aufwendigen Überwältigungstanzes, hat mit „Planet (Wanderer)“ ein für seine Verhältnisse zurückhaltendes Stück choreografiert: Die Bühne des japanischen Künstlers Kohei Nawa bleibt zunächst statisch, eine sandige Fläche, die je nach Lichteinfall (Yukiko Yoshimoto) mal an eine Wüste erinnert, mal an eine Wasserfläche, mal an einen wattähnlichen Raum. Und das achtköpfige Ensemble durchtanzt diesen Raum langsam, meditativ, teils in Zeitlupe.

Theater Hamburg: Eine Tänzerin verschwindet auf Kampnagel im Leiberknäuel wie in einer riesigen Vulva

Bilder entwickeln sich da, die an Geburt und Evolution denken lassen. Eine Tänzerin verschwindet im Leiberknäuel wie in einer riesigen Vulva, Körper kriechen durch Schlamm, nach einer Weile gibt es kurze synchrone Bewegungen, die sich dann wieder auflösen. Werden und Vergehen. „Ein schwarzer Sand, Sternenstaub oder Meteorit, (hat) eine Landschaft geformt, die dann, durch die Anwesenheit der Körper, unbemerkt modifiziert wird“, schreibt Jalet im Programmmzettel, was den kreatürlichen Charakter von „Planet (Wanderer)“ recht gut auf den Punkt bringt: Es geht hier um Einheit in der Vielheit, es geht darum, wie der Einzelne in Beziehung zu seiner Umgebung tritt, zu anderen Menschen, aber auch zum Raum und zum Material.

Das lässt sich nicht zuletzt umweltpolitisch lesen: Der Mensch lebt auf dem Planeten, und dadurch, dass er hier lebt, verändert er seine Umgebung, wenn er nicht aufpasst, zerstört er sie auch.

Die Tänzer auf Kampnagel: barfuß, glitzernde Leggings, nackte Oberkörper

So konkret wird Jalet auf der Bühne allerdings nie. Stattdessen baut er Bilder, die so perfekt sind, so beeindruckend, manchmal so schön, dass einem der Mund offensteht (und manchmal auch an der Grenze zum Kitsch, zugegeben). Einmal versinken die Tänzer, barfuß, glitzernde Leggings, nackte Oberkörper (Kostüme: Sruli Recht), ein paar Zentimeter im Boden, wirken wie festgewachsen und beginnen zu pendeln, erst sanft, nach einer Weile heftiger, bis sie immer exzessivere Dehnbewegungen vollziehen – Pflanzen, die in einem stärker werdenden Sturm drangsaliert werden, dabei aber ihren Standort nicht verlassen können.

Das ist auch tänzerisch beeindruckend, aber es dauert: Nach fünf, nach zehn Minuten sitzt man immer noch mit offenem Mund da, und dann fragt man sich schon, ob hier eigentlich noch etwas passieren wird.

Inhaltlich und tänzerisch beeindruckend: Damien Jalets „Planet (Wanderer)“.
Inhaltlich und tänzerisch beeindruckend: Damien Jalets „Planet (Wanderer)“. © Rahi Rezvani | Rahi Rezvani

Das gehört eben auch zu diesem Theater: die ständige Wiederholung, die Schleifen, die das Geschehen vollzieht (was sich sehr genau in der Bühnenkomposition des kanadischen Elektromusikers Tim Hecker abbildet). So etwas kann längerfristig ermüdend wirken, aber „Planet (Wanderer)“ ist erstens sehr dicht choreografiert, gerade mal eine knappe Stunde lang.

Warum der Leerlauf auf Kampnagel nicht gestört hat

Und zweitens hat Jalet auch ein Gespür für den Zeitpunkt, an dem er eine Szene abbrechen sollte, genau an der Stelle, an der eine schon zu ahnende Langeweile in echten Überdruss kippen würde. Es ist nicht so, dass diese Ästhetik keinen Leerlauf produzieren würde, aber dass einen der Leerlauf nicht stört, das sagt dann eben auch etwas über Jalets choreografisches Können aus.

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Schließlich öffnen sich die Schleusen, und eine weiße, zähe Flüssigkeit flutet die Bühne, sie erinnert an heißes Wachs, an Zuckerguss oder (ja, das auch!) an Ejakulat. Die Masse bedeckt nach und nach die Tanzenden und härtet aus, es ist ein erschreckendes Bild, das da entsteht: Körper, die zu Skulpturen erstarrt sind, bewegungslos, mit verzerrten Zügen. Ein erschreckendes Bild, aber eben auch ein irgendwie sexy Bild, nicht zuletzt ein spektakuläres Bild. „Planet (Wanderer)“ mag eine für Damien Jalet zurückhaltende Arbeit sein, spektakulärere Bühnenkunst dürfte aber derzeit in den Hamburger Theatern kaum zu finden sein. Überwältigungstanz, am Ende eben doch.

„Planet (Wanderer)“ bis Sonnabend, 9. Dezember, 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20, Tickets unter 27094949, www.kampnagel.de