Hamburg. Am 2. Dezember vor 100 Jahren wurde die legendäre Sopranistin geboren, die zweimal in Hamburg gefeiert wurde. Ihr Mythos lebt weiter.

Alle Musikerinnen und Musiker, die durch ihren Künstlereingang an der Südseite die Elbphilharmonie betreten, um dort zu spielen oder zu singen, werden mit einem riesigen, ebenso ikonischen wie einschüchternden Foto aus dem Archiv der Laeiszhalle konfrontiert, das 2017 gegenüber den beiden Fahrstühlen einen idealen Platz fand und dort alle Blicke auf sich zieht: Maria Callas, „La Divina“, die Göttliche, am 16. März 1962.

Diese Momentaufnahme, ein Heiligenbild, eine regelrechte Marienerscheinung ist nicht weniger als majestätisch: die Sopranistin als „primadonna assoluta“ in großer Abendrobe und mit steil toupierter Frisur, huldvoll der Blick nach unten, auf ihre jubelnden Fans, die, herausgeputzt wie für einen Ball, bis an den Rand der Bühnenkante drängen.

Der Bühnenboden ist mit Blumen bedeckt, jemand hat einen ganzen Blumenkorb mitgebracht. Ein Bewunderer hofft, garantiert vergeblich, zu ihren Füßen auf ein Autogramm. Damit diese Füße der Callas nicht auf schnödem Holz stehen mussten, liegt ein kleiner Teppich neben dem Dirigentenpult von Georges Prêtre.

Wie Maria Callas 2017 in die Hamburger Elbphilharmonie kam

Callasologen werden später in den Stimmband-Chroniken vermerken, dass der zweite Callas-Auftritt in Hamburg (der erste Abend dieser Konzerttournee) noch weniger für die Ewigkeit gewesen war als bereits ihr erstes Konzert 1959, ebenfalls mit dem NDR-Orchester. Die Jahrhundertstimme war noch mehr jenseits des Zenits, den sie dramatisch früh verließ. Doch dort, als der Fotograf den richtigen Sekundenbruchteil verewigte, zählte nur dieser Augenblick. Diese Bewunderung, überlebensgroß.

Sechs Jahrzehnte später ist dieses Foto, das dem Hamburger Fotografen Matthias du Vinage gelang, ein Ansporn, aber auch eine Liebeserklärung an eine einmalige Künstlerin. „Vissi d’arte“, sang Callas als Tosca, eine ihrer Paraderollen, „Ich lebte für die Kunst“. Egal, aus welcher Stilrichtung die Musikerinnen und Musiker kommen, die nun ins Rampenlicht der Elbphilharmonie wollen und dürfen – sie alle sehen auf diesem Foto, wie es sein kann, so konsequent zu leben und dafür so gefeiert zu werden, ganz oben auf dem eigenen, einsamen Gipfel.

Das Rollenmodell Maria Callas

„Sie war die Größte. Nicht nur die größte Sängerin oder Darstellerin. Sie war ‚the only one‘, und das war ihr immer bewusst.“ Kurz vor ihrer Premiere an der Staatsoper als Salome schwärmte die Sopranistin Asmik Grigorian über eines ihrer Idole. Wie damals die Callas gilt Grigorian heute als eine Sängerin, die Risiken und Grenzerfahrungen braucht und sucht, um sie zu ignorieren und als Stimmdarstellerin in ihre Kunst zu verwandeln. Die den Schmerz und ihre Angst in Größe, Kraft und Verletzlichkeit umkehrt.

Ein Foto aus dem Konzert, das Maria Callas am 15. Mai 1959 mit dem NDR-Sinfonieorchester in der Hamburger Musikhalle gab.
Ein Foto aus dem Konzert, das Maria Callas am 15. Mai 1959 mit dem NDR-Sinfonieorchester in der Hamburger Musikhalle gab. © Getty Images | Fred Ihrt

Damit ist sie nicht allein: Die junge Sopranistin, die auf der Bühne so groß wie die Callas werden, aber im Rest des Lebens nicht so tragisch enden will, die muss wohl noch geboren werden. Schon die große Christa Ludwig gab offen zu: „Wenn die Callas anfängt, ein Bellini-Rezitativ zu singen, fange ich an zu weinen.“

Maria Callas – die Auftritte ihres Lebens

Maria Callas „war“ nicht nur Bellinis Norma und in dieser Rolle als hochdramatische Druidin, die sie 91-mal stimmverkörperte, eine Darstellerin mit geradezu archaischer Ausdruckskraft. Sie wurde, seit ihrem ersten Auftritt mit 18, 1942 in Athen, auch zu einer einzigartigen Tosca – 51-mal ist sie als römische Sängerin aufgetreten, als Tosca verabschiedete sie sich auch von der Bühne, am 5. Juli 1965 in London. Das Repertoire ist vor allem italienisch und tragisch endend, Norma, Tosca, Gilda, Violetta, insgesamt 43 Rollen, verteilt auf 605 Aufführungen.

Stilikone war sie auch: eine Aufnahme von Maria Callas aus dem Jahr 1965.
Stilikone war sie auch: eine Aufnahme von Maria Callas aus dem Jahr 1965. © picture alliance / Everett Collection | picture alliance

Mit 22 lehnte Callas einen Dreijahresvertrag an der New Yorker Met ab, weil ihr die angebotenen Partien zu unscheinbar waren. Ihre eigene Rolle schrieb Maria Callas mehrfach neu und um: die Senkrechtstarterin in eine Weltkarriere, das Glühen im Lampenlicht auf allen großen Bühnen.

In der Saison 1953/54 hungerte sich das frühere Pummelchen, über dessen Statur sich Kritiker gern lustig machten, von 92 auf 64 Kilo herunter. Als sie die Society-Welt entdeckte und umgekehrt die Klatschspalten diese Sängerin, überholte der Glamour-Faktor ihrer Skandale und Affären ihre Karriere auf bittere Weise.

Maria Callas – eine wie keine

Wenige Noten nur, dezent verrauscht oder digital nachpoliert, und es wird klar: nur die Callas. Die „Schönheit“ ihres Klangs war dabei relativ, sie wollte aufrichtig sein, ausdrucksehrlich und alle am Herzen packend. Dass sie für diese extreme, glühende Subjektivität schon mal als „griechische Kreissäge“ beleidigt wurde, wurde ihr immer wieder schmerzhaft bewusst.

Doch sie litt und machte weiter, für das größere Ganze. Und sie war vielseitig genug, um neben den mitunter gefallsüchtigen, virtuos überdrehenden Belcanto-Rollen, denen sie Tiefe und Ernst verlieh, auch die dramatischeren Heldinnen und Tragödinnen zu ihren Schwestern im Geiste zu machen.

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„Geld ist mir egal, ich will nur mehr als alle anderen.“ Fast ebenso legendär wie ihre Stimme war auch das Ego von Maria Callas. Die gern in den Medien bestaunte Rivalität mit der Sopranistin Renata Tebaldi war eine Facette. Wagte es ein Tenor, neben ihr Spitzentöne länger als ordnungsgemäß zu singen, konnte es passieren, dass die Callas die Operndirektion dazu brachte, den Kollegen wegen Majestätsbeleidigung vor Publikum aus der Produktion zu werfen.

Maria Callas: ihre Aufnahmen

Callas‘ Karriere auf der Bühne ist umfangreich dokumentiert. Aber nicht bis ins letzte Detail vollständig. Auch in der kürzlich erschienen Tonträger-Schatulle „Maria Callas – La Divina In All Her Roles” (131 CDs, 3 Blu-Ray, 1 DVD, Warner, ca. 298 Euro) hält der Inhalt nicht ganz, was der Titel vollmundig verspricht.

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Callas-Pflicht-Schätze wären beispielsweise eine „Tosca“ von 1953 aus der Scala mit de Sabata oder die Mailänder „Medea“ mit Bernstein, eine „Traviata“ von 1955 aus Mailand mit Giulini oder aus dem gleichen Jahr eine Berliner „Lucia di Lammermoor“ mit Karajan. Oder, als Rarität auf Italienisch, die noch junge Callas mit Wagner, mit Isoldes „Liebestod“ von 1949.

Begleitlektüre zu Maria Callas

Alle Standardwerke sind bereits mehrfach geschrieben. Der vor 30 Jahren erschienene Pracht-Bildband „Callas: Gesichter eines Mediums” (herausgegeben von Attila Csampai, Schirmer Mosel, 272 S., 36 Euro) mit einer einfühlsamen Würdigung von Ingeborg Bachmann („Sie hat nicht Rollen gesungen, niemals, sondern auf der Rasierklinge gelebt“) wurde als Taschenbuch neu aufgelegt. Nach wie vor unübertroffen in seiner sachkundigen Beschreibung ist das „Callas“-Buch des Hamburger Journalisten und Stimmexperten Jürgen Kesting (List, 448 S., 12,99 Euro).

Extrem unterschiedliche neue Biografie-Ansätze? Gibt es ebenfalls: Eva Gesine Baurs „Maria Callas. Die Stimme der Leidenschaft“ (C.H. Beck, 507 S., 29,90 Euro) arbeitet sich nicht immer trittsicher an Klischees, Rollenvorstellungen und (Vor-)Urteilen ab. Der Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen dagegen dokumentiert in „Maria Callas. Kunst und Mythos” (Reclam, 367 S., 25 Euro), was war, wie und warum.

Maria Callas – die Verehrung

Wer derart unsterblich ist, braucht unbedingt ein eigenes Museum. Und obwohl Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulou als Emigrantentochter in New York zur Welt kam, wurde vor gut einem Monat ein Callas-Museum in Athen eröffnet, jener Stadt, in der der erste Abschnitt ihrer Karriere begann.

Maria Callas mit ihrem langjährigen Liebhaber, dem griechischen Reeder Aristoteles Onassis, aufgenommen Mitte der 1960er-Jahre.
Maria Callas mit ihrem langjährigen Liebhaber, dem griechischen Reeder Aristoteles Onassis, aufgenommen Mitte der 1960er-Jahre. © picture-alliance / dpa | picture alliance

Zu sehen ist dort die Nachbildung eines Zimmers ihrer Wohnung in Paris, in der sie am 16. September 1977 mit nur 53 Jahren einsam, erblindend und an mehrfach gebrochenem Herzen starb. Dazu auch Devotionalien, wie ihre Brille, die sie – Stichwort: Diva – fast nie trug, obwohl sie so kurzsichtig war, dass der Regisseur Luchino Visconti ihre Bühnenpositionen mit großen Dosen seines Lieblingsparfüms markierte. Ebenso zu bestaunen: die Speisekarte jenes folgenreichen Abends in Venedig, bei dem die Callas 1957 den griechischen Reeder Aristoteles Onassis kennenlernte, der später doch nicht sie, sondern Jackie Kennedy heiratete.

Maria Callas online

Natürlich erzählt der Kultursender ARTE Leben und Werke in einem Themenschwerpunkt: „Callas Forever“ zeigt ihren letzten Opernauftritt, dazu Dokumentationen in der Mediathek und am 3.12. im TV-Programm. Die ARD präsentiert Archiv-Aufnahmen, historische Interviews und TV-Berichte in ihrer Mediathek, ebenso BR Klassik in einem Online-Dossier. Der NDR hat online komplette Videomitschnitte der beiden Hamburger Konzerte zu bieten.

Die Callas im Kino

Der „Medea“-Film, den Pier Paolo Pasolini 1969 mit Callas drehte, war ein drastisches Stilexperiment, und das nicht nur, weil sie keine einzige Note sang. Pünktlich zum Geburtstag am 2. Dezember kommt „Callas – Paris, 1958“ zurück in die Kinos, erstmals in Farbe, in 4K und mit Dolby-Atmos-Klangveredelung (Zeise, Passage, Astor, Infos: www.mariacallas.film).

Eines der ersten Fotos von den Dreharbeiten für „Maria“ mit Angelina Jolie in der Titelrolle. Der Film soll 2024 in die Kinos kommen.
Eines der ersten Fotos von den Dreharbeiten für „Maria“ mit Angelina Jolie in der Titelrolle. Der Film soll 2024 in die Kinos kommen. © Pablo Larrain | Pablo Larrain

Und während die Callas-Bewunderung sich auf dieses Datum konzentriert, dreht Hollywoodstar Angelina Jolie gerade in Paris, Mailand und Griechenland mit Pablo Larraín, der in „Spencer“ das Leben und das Leiden von Lady Diana auf die Leinwand gebracht hat, das Callas-Biopic „Maria“ über deren letzten Tage in Paris.

„Der Mythos Callas lebt“, erkannte ihr Deuter Attila Csampai schon 1997. Sterben wird er offensichtlich so schnell nicht.