Hamburg. Riesige Screens mit dem Action Painting der Natur und dazu eine Sängerin in guter Form: Für Ultras war‘s ganz sicher ein Fest.
Sie selbst hat ihre aktuelle Show, mit der sie seit einiger Zeit unterwegs ist, eine Art „Theater“ genannt. Was Björks opulentes „Cornucopia“-Spektakel angeht, kann man mit Sicherheit sagen: Es ist eine bildgewaltige, performative Show mit ziemlich viel Bildschirm-Einsatz. Vom visuellen Superreiz des ursprünglich für eine Serie von Auftritten in New York konzipierten Programms durfte man sich am Dienstagabend mit 7000 anderen Besucherinnen und Besuchern in der Barclays Arena überzeugen.
Bei einem von zwei Deutschland-Konzerten der Nordeuropäerin. Björk gilt zu Recht als Einhorn unter den Popstars, als Fabelwesen, dessen man, gemessen an der Auftrittsfrequenz der Konkurrenz, eher selten ansichtig wird. Also nix wie hin, trotz teurer Tickets! Es sollte einiges geboten werden.
Björks Hamburg-Konzert: Zum Geburtstag wird ein Ständchen geflötet
Und was heißt eigentlich „Konkurrenz“?: Was ätherische Zartheit und animalische Rohheit angeht, ist Björk alleine unterwegs, immer schon. Wer in den Neunzigern jung war, der lernte bei MTV dank ihrer, dass Mariah Carey nur eine Möglichkeit war. Die andere war Björk, jene Frau, die musikalische Schönheit mit Weirdness verband. Im Video von „Venus As A Boy“ briet sie so hinreißend Eier wie seitdem niemand mehr.
In der Barclays Arena kochte niemand, auch nicht das Publikum. Das war eher andächtig, in voller Kenntnis des memorablen Events: Wer weiß, wann man Björk das nächste Mal sehen kann? Und so wie hier sicher nicht wieder.
Die Sängerin, 58 mittlerweile (sie hatte an diesem Dienstag Geburtstag und bekam ein geflötetes Ständchen), singt auf dieser Tournee mitunter in einer Hallkammer. Es sind viele (tanzende) Flötisten im Einsatz, Klarinettisten, eine Harfe. Percussion und extrem viel Elektronik komplettieren den Sound. Das Programm umfasst hauptsächlich die Stücke der letzten beiden Alben „Utopia“ und „Fossora“.
Björk wünscht sich, dass das Publikum auf Handykameras verzichtet
Aber das Erste, was man in Hamburg hörte, war Vogelgezwitscher (neben einer Ansage, die Künstlerin wünsche sich einen Verzicht auf Handyaufnahmen zwecks größtmöglicher Konzentration). Björks Verbundenheit mit der Natur ist eine Karrierekonstante. Die Show „Cornucopia“ handelt von der Natur, Utopia ist der Ort, der diese wertschätzt. Sie handelt vom Wachsen und Gedeihen, von Mutterschaft, von der Schönheit der Schöpfung
Wer würde da tatsächlich „Tabula Rasa“ machen wollen, so heißt eins der Stücke von Björk? In dem geht es übrigens um feminine Superpower gegen männliche Herrschaft. Bei Björk steht Weiblichkeit in voller Blüte, und das nicht erst seit diesem aktuellen Projekt. „Cornucopia“ (zu Deutsch: Füllhorn, Überfluss) ist ein Mix aus Mythos und Märchen und Mikroskop.
Jedenfalls fühlte man sich an den Biologieunterricht erinnert. Flügel, Schwämme, Pilze, Blüten, Knospen, Farben überall. Ein riesiger LED-Screen, auf dem es floss und waberte. Eine Künstlerin, zerlegt und ästhetisiert als Organismus: Das ist eine Rolle, die Björk in ihrer Show spielt, man kannte dies bereits aus ihren jüngsten Musikvideos.
Björk: Kinder würden sich gruseln, Kiffer hätten ihren Spaß
Zwei gedankliche Mitbringsel aus dem anderthalbstündigen Konzert: Kinder könnten sich gruseln, wenn sie das sähen; sie finden schon die Albumcover irgendwie unheimlich. Kiffer hatten außerdem vermutlich einen guten Abend, und als psychedelischer Trip war Björks Auftritt bestens geeignet.
Aber halt: Synthetische Gefühlsverstärkung durch Pillenzufuhr war sicher nicht Thema dieses Motto-Abends. Der zielte auf die Grandiosität unseres Planeten, der doch so gefährdet ist; man sollte wohl und konnte auch naturgedopt aus der Arena gehen.
Björk präsentiert sich in Hamburg gut bei Stimme, überwältigt aber nicht
Oder halt wie immer, wie früher verzückt von Björk Guðmundsdóttir, der Frau, die sich seit Jahrzehnten als Waldgeist und isländische Elfe durch die Popkultur zaubert. Das war in Hamburg so, weil das Gesamtkunstwerk Björk gut bei Stimme war, vom ersten Stück „The Gate“ an. Ein versponnenes Bühnenbild, buchstäblich sagenhaft, kostümmäßig reichte der aufgeplusterten Sängerin niemand das Wasser, eh klar. Björks Tanzstil ist übrigens immer noch unverkennbar. Kindlich. Dem Liebeslied „Blissing Me“ folgte ein Leinwand-Appell („Imagine the future/be in it“) mit Bezug auf das Pariser Klimaschutzabkommen.
Die besten Visuals gab es bei „Courtship“ zu bestaunen, Fontänen, Geysire, ein Fest. Insgesamt ist Björks aktuelle Show zu sehr auf den Schauwert angelegt, um musikalisch zu überwältigen: Die Lieder flossen ineinander, alles war immer in Bewegung, Natur in Ekstase, Existenz als Action Painting. Der Sound eine Techno-Sinfonie, mehr kalt als warm.
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Was die Gefährdung unserer Lebensgrundlage angeht, war die derzeit anderweitig schlecht beratene Klimaaktivistin Greta Thunberg Björks Gewährsfrau, sie kam in einer Videobotschaft vor den Zugaben zu Wort. Sollte man nun hochrechnen, was die „Cornucopia“-Tour an Ressourcen verbraucht? Gemein, gemein. Björk erhebt ihre Stimme (auch mit ihrer neuen Single „Oral“) für den Planeten, derzeit will sie zum Beispiel isländische Gewässer vor norwegischer Überfischung retten.
Widersprüchliche Signale sandte das Konzept ohnehin aus. Kunst als Gegenteil von Natur, als zivilisatorische High-End-Leistung: Die Bilderflut war so gesehen verdammt unnatürlich. Oder besser Naturkunst, Kunstnatur, für Björk vom Münchner Tobias Gremmler eindrucksvoll visualisiert. Computer sind vollkommen unnatürlich, aber sie sind imstande, die Natur zu imitieren und zu verwandeln.
Die alten Songs „Isobel“, „Venus As A Boy” (leider nicht sehr lieblich) und „Pagan Poetry” (wunderbar!) spielt Björk auf ihrer Tour als Zugeständnis an ihre Fans. Wobei in Hamburg diejenigen unter ihnen, für die Björk nichts anderes als eine Göttin ist, so hatte es den Anschein, ohnehin alles goutiert hätten. Was sie geboten bekamen, war das größte Pop-Theater des Jahres, die vollendete Kunstwerdung des eigenwilligen Popstars Björk.